Archiv des Autors: Peter Sutter

Sonntagszeitung vom 17. November 2024: Wenn die Empörung über die Empörung grösser ist als die Empörung über deren Ursachen…

„Blutrünstige Graffitti“, ein „Klima der Einschüchterung“, „aktivistische Professoren“, „falsche Anschuldigungen“, „extreme Positionen“ – so wird in der Sonntagszeitung vom 17. November die Empörung beschrieben, die bei den Pro-Palästina-Protesten an Westschweizer Unis wahrzunehmen ist. Doch weshalb so viel Empörung?

Rechnet man zu den durch militärische Gewalt getöteten Menschen jene hinzu, die infolge von Hunger und fehlender medizinischer Versorgung bisher ihr Leben verloren haben, sind es rund 90‘000, zu einem grossen Teil Frauen und Kinder, unschuldige Menschen, die mit den Terroranschlägen vom 7. Oktober 2023 nichts zu tun haben. Auch wurden Dutzende von Schulen, Krankenhäusern, Moscheen, Geschäften, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen zerstört, ebenso der überwiegende Teil der gesamten Infrastruktur wie die Versorgung mit Wasser, Nahrungsmitteln und Energie. Zudem hat die Schweiz als einziges Land der Welt die Zahlungen an das palästinensische Hilfswerk UNRWA ausgesetzt, was den Hungertod von Millionen von Menschen zur Folge haben könnte.

Und da soll man nicht empört sein und nicht in aller Schärfe demonstrieren dürfen gegen ein Regime, das solche Verbrechen begeht, alle bisherigen Forderungen nach einem Waffenstillstand in den Wind geschlagen hat und nicht einmal – erstmalig in der fast 80jährigen Geschichte der UNO – davor zurückschreckt, den UNO-Generalsekretär nicht mehr einreisen zu lassen, obwohl dieser kein anderes Ziel verfolgt, als diesem unermesslichen Leiden endlich ein Ende zu setzen.

14. Montagsgespräch vom 11. November 2024: Die schweizerische Asylpolitik in der Diskussion – Türen öffnen statt Feindbilder aufbauen

Thema des 14. Buchser Montagsgesprächs vom 11. November war die schweizerische Asylpolitik. Eingeladen zu diesem Anlass waren auch zwei Flüchtlinge aus Pakistan und Äthiopien, die zurzeit im kantonalen Ausreise- und Nothilfezentrum Sonnenberg in Vilters leben, sowie die Präsidentin und eine weitere Mitarbeiterin des Solidaritätsvereins Sevelen.

Wie zu erfahren war, leben im Zentrum Sonnenberg Flüchtlinge, deren Gesuch um ein Bleiberecht in der Schweiz abgewiesen wurde, die aber aufgrund schwieriger Umstände nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können. Dies bedeute für viele ein jahrelanges Verharren in völliger Perspektivenlosigkeit, ohne Geld, ohne Möglichkeit einer sinnvollen Beschäftigung und in beständiger Angst vor einer gewaltsamen Ausschaffung.

Es wurde diskutiert, ob die Schweiz nicht schon zu viele Flüchtlinge aufgenommen hätte. In Anbetracht der Tatsache, dass auf 100 Bewohnerinnen und Bewohner nur ein einziger anerkannter Flüchtling kommt – in Deutschland beispielsweise sind es 3,7 – könne man, so eine Diskussionsteilnehmerin, diese Frage wohl eher verneinen. Eine andere Gesprächsteilnehmerin meinte, sie hätte oft Angst, sich an Orten aufzuhalten, wo es viele Flüchtlinge gäbe, eine Aussage, der eine andere Votantin deutlich widersprach, indem sie berichtete, sie hätte sich schon oft an solchen Orten aufgehalten, es sei ihr aber noch nie etwas passiert.

Ein Diskussionsteilnehmer wies darauf hin, dass der Anteil von Ausländern in den Gefängnissen ausserordentlich hoch sei, dem wurde aber entgegen gehalten, dass die weit überwiegende Mehrheit der Ausländerinnen und Ausländer noch nie ein Delikt begangen hätten und dass man negative Meldungen oft zu sehr in den Mittelpunkt stelle. So etwa wurde erwähnt, dass von den insgesamt 36‘000 in der Schweiz lebenden Afghaninnen und Afghanen nur von zwei Personen innerhalb eines halben Jahres eine schwere Straftat begangen worden sei, dies aber in der öffentlichen Wahrnehmung weitaus mehr Gewicht hätte als die Tatsache, dass weit über 99 Prozent dieser Personengruppe im gleichen Zeitraum kein einziges Delikt begangen hätten. Trotzdem müsse man, so wurde erwähnt, die abwehrende Haltung vieler Einheimischer ernst nehmen und offen darüber diskutieren, denn oft spielten dabei eigene Zukunftsängste eine wichtige Rolle.

Unmut äusserte eine Diskussionsteilnehmerin darüber, dass die grosszügige Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen aus der Ukraine in keinem Verhältnis stünde zu jener gegenüber Flüchtlingen aus anderen Ländern.

Die Bemühungen um Integration, so ein weiteres Votum, könnten nicht alleine von den ausländischen Menschen verlangt werden, auch die einheimische Bevölkerung müsse ihren Teil dazu beitragen, zum Beispiel dadurch, dass man vermehrt die eigenen Türen öffne und diese Menschen am Alltag teilnehmen lasse, statt sie auszugrenzen und aufgrund vereinzelter schlechter Erfahrungen zu einseitige Vorurteile gegen sie aufzubauen.

Leider gerade ein Aufnahmestopp für Kinder über zwei Jahren…

Die Schweiz im November 2024: Kein Witz…

Joel, der vor drei Wochen zwei Jahre alt geworden ist, hat sich mit der Scherbe eines zerbrochenen Glases eine Schnittwunde am Daumen zugezogen. Die stark blutende Wunde notdürftig mit einem Verband versehen, melden wir uns, weil es Sonntag ist und alle Arztpraxen geschlossen sind, beim Notfalldienst des Kantonsspitals in der Nachbargemeinde. Die Auskunft am Schalter: Heute sei gerade kein Kinderarzt im Dienst, aber nun ja, man werde schauen, ob ein anderer diensthabender Arzt die Wunde anschauen könnte, doch man könne nichts versprechen, alle seien völlig ausgelastet. Aber dann doch noch: Nach zwei Stunden Warten schaut sich ein Arzt die Wunde an und verschliesst sie mit Klebestreifchen. Es wird uns eine Nachkontrolle zwei Tage später beim örtlichen Kinderarztzentrum empfohlen.

Zwei Tage später: Die Frau am Telefon des Kinderarztzentrums teilt uns mit, dass die Praxis infolge Überlastung kürzlich einen Aufnahmestopp verfügt hätte. Neue Kinder würden nur noch aufgenommen, wenn sie jünger als zwei Jahre sind. Pech gehabt, Joel ist drei Wochen zu alt.

Da Joel und seine Eltern erst seit Kurzem in der Schweiz leben und noch keinen Hausarzt bzw. keine Hausärztin finden konnten, rufe ich meine Hausärztin an, ob sie ausnahmsweise Joels Wunde kurz anschauen könnte. Würde sie ja gerne, aber heute und morgen sei alles voll und am Donnerstag und Freitag sei die Praxis geschlossen. Man empfiehlt uns den Notfallarzt in der fünf Kilometer entfernten Nachbarsgemeinde.

Dort heisst es: Aussichtslos, heute und morgen keine freien Termine. Aber wir könnten es ja in L., einer weiteren unserer Nachbargemeinden, versuchen. Dort praktiziere eine Kinderärztin. Das Problem sei nur, dass man sie kaum erreichen könne, da die Stelle ihrer Praxisassistentin zurzeit gerade nicht besetzt sei. Und jetzt, frage ich? Nun ja, heisst es, dann würde uns halt der Notfallarzt gegen Abend noch irgendwo hineinquetschen, aber es könnte sein, dass wir bis zu zwei Stunden warten müssten.

Wir müssen dann nur eine Stunde warten, der Arzt wirft einen kurzen Blick auf die schon gut verheilte Wunde und lässt uns nach einer Minute wieder gehen.

Das schweizerische Gesundheitssystem am 12. November 2024 in der Schweiz, einem der reichsten Länder der Welt. Ich bin fast ganz sicher, drei- oder vierhundert Jahre früher hätte man in jedem noch so kleinen Dorf eine Naturheilerin gefunden, die für eine kleine Schnittwunde am Daumen eines zweijährigen Kindes ein passendes Kräutchen parat gehabt und den Finger mit dem Blättchen einer wohltuenden Pflanze umwickelt hätte. Aber die hat man ja dann alle als Komplizinnen des Teufels zu Tode gefoltert und auf den Scheiterhaufen verbrannt…

Ein altes Land und ein neues Land und dazwischen eine Brücke

Es gibt ein altes Land und ein neues Land und dazwischen eine Brücke. Im alten Land herrscht noch das Patriarchat, Macht und Geld regieren über Liebe und Gerechtigkeit, bei Konflikten greift man zu Waffen statt zur Vernunft, Erwachsene fühlen sich als etwas Besseres im Vergleich mit den Kindern. Im neuen Land verstehen die Menschen die Sprache der Engel, alles ist mit allem verbunden, durchströmt von Liebe, Fürsorge und der Musik des Himmels. Krieg, Ausbeutung, Vorteile der einen auf Kosten anderer gehören für immer der Vergangenheit an. Zwischen dem alten Land und dem neuen Land ist eine Brücke, man sieht sie nicht auf den ersten Blick, es braucht manchmal viel Geduld, um sie zu finden, und vor allem Offenheit und Neugierde auf Neues. Viele Menschen leben schon heute im neuen Land. Ihr Leben hat sich zutiefst gewandelt. Sie sprechen eine andere Sprache, sie denken anders, und wenn sie gegenseitig ihre Gedanken austauschen, stellen sie immer wieder mit grösstem Erstaunen fest, dass sie alle, unabhängig voneinander und auf ganzen verschiedenen Wegen, so etwas wie einen gemeinsamen Schatz gefunden haben, von dem sie schon immer träumten und der jetzt endlich Wirklichkeit geworden ist. Im alten Land aber mauern sich immer noch viele Menschen in ihrem alten Denken und in ihrer alten Sprache ein, bauen sogar die Mauern rund um sich herum immer noch weiter und weiter in die Höhe. Doch immer mehr Menschen finden den Weg zur Brücke, vernehmen immer deutlicher die himmlischen Klänge auf der anderen Seite davon, die Stimmen der Engel, das Lachen der Kinder, das Paradies. So wie sie die Brücke zu überqueren beginnen, so verwandeln sie sich nach und nach aus Wesen des alten Landes und der alten Zeit in Wesen des neuen Landes und der neuen Zeit. Und wer erst einmal im neuen Land angekommen ist, wird nie mehr zurückwollen ins alte Land. Das schafft so unendlich viel Hoffnung in immer noch dunklen Zeiten. Denn an die Ohren selbst jener, welche sich unter Aufbietung all ihrer Kräfte immer verbissener an der Sprache und dem Denken der alten Zeit festklammern, wird früher oder später die Musik von der anderen Seite der Brücke dringen, ob sie wollen oder nicht. Sie können alles tun, ihre Herzen in noch so kaltes Eis zu legen. Eines Tages wird auch das letzte Eis geschmolzen sein.

Systematische Verhinderung der Revolution

Man könnte es geradezu als Strategie des Kapitalismus bezeichnen, die Menschen in den ärmeren Ländern entweder auszuhungern oder zu Tode erschöpfender Ausbeutung zu unterwerfen und die Menschen in den reicheren Ländern entweder im Luxus zu ertränken, im gegenseitigen Kampf um sozialen Aufstieg oder Abstieg permanent unter Druck zu setzen oder mit dermassen vielen sinnlosen Aktivitäten zu betäuben, dass niemand mehr, weder in den reichen noch in den armen Ländern, genug Zeit und Kraft hat, um die Revolution vorzubereiten.

Möglichst viel Sport und Biogemüse, um gesund zu bleiben? Alles pure Illusion…

Meistens, wenn ich älteren Menschen begegne, geht es im Gespräch früher oder später um das Thema Gesundheit, vorher kommt höchstens noch das Wetter oder die Information darüber, wo man die letzten Ferien verbrachte und wohin die nächste Ferienreise gehen soll.

Oft geht es um künstliche Knie- oder Hüftgelenke, zu hohen Blutdruck, Rückenbeschwerden, Kopfschmerzen, Übergewicht oder Schlaflosigkeit. Für viele Menschen, nicht nur für ältere, scheint die Gesundheit fast so etwas wie ihre Hauptbeschäftigung zu sein, schon fast eine Art Religion. Sie besuchen regelmässig für teures Geld ein Fitnessstudio, rackern sich dort an allen möglichen und unmöglichen Geräten fast bis zur Erschöpfung ab und schwingen sich dann, kaum zuhause, zusätzlich noch auf ihren privaten Hometrainer, stemmen Gewichte, machen Liegestütze, Kniebeugen und vieles mehr. Sie ernähren sich ausschliesslich gesund und natürlich biologisch, nehmen möglichst wenig Fett und Zucker zu sich, kontrollieren fast täglich ihr Gewicht. Sie überwachen mit einer immer grösseren Anzahl immer raffinierterer elektronischer Geräte den Zustand ihres Körpers, sind Tag und Nacht auf zwei Stellen nach dem Komma informiert über ihren Puls, ihren Blutdruck, die Zusammensetzung des Blutes und eilen voller Panik in die nächste Notfallstation, wenn irgendeiner dieser Messwerte auf einmal aussergewöhnlich nach oben oder nach unten ausschlägt. Schrittzähler klären sie jeden Abend darüber auf, ob sie an diesem Tag genug Bewegung gehabt und eine genug grosse Anzahl von Schritten zurückgelegt haben. In speziell hierfür eingerichteten Kliniken lernen sie schlafen oder ihr Übergewicht abbauen, in anderen Kliniken werden ihnen Süchte aller Art, Depressionen und Burnouts ausgetrieben. Hotels werben mit Wellnessoasen, Massagen, Yoga und sündhaft teuren Wohlfühlpaketen rund um die Uhr. Falten und andere störende Alterserscheinungen werden wegoperiert, Brillen durch Kontaktlinsen ersetzt, für jede Art von Bewegung ein hierauf spezialisierter Schuh und ein passender Dress gekauft. Und vor allem: Sie treiben Sport, auf Teufel komm raus, fast in jeder Sekunde ihrer Freizeit, legen täglich zwanzig oder fünfzig Längen im Schwimmbecken zurück, klettern möglichst schnell auf möglichst viele hohe Berge, joggen, bis ihnen der Schnauf ausgeht, rasen mit ihren Rennvelos in einem so horrenden Tempo durch die Landschaft, dass man meinen könnte, es ginge ums nackte Überleben. Und doch, seltsamerweise, sind sie nicht wirklich gesund und werden es auch nicht, wie man ja erwarten müsste, immer öfters. Wären sie wirklich gesund, dann würde die Anzahl von Menschen, die regelmässig Medikamente schlucken, nicht in einem so erschreckenden Ausmass laufend zunehmen.

Denn es ist eben alles pure Illusion. Man kann nicht körperlich gesund sein, wenn man nicht gleichzeitig auch geistig-seelisch-sozial gesund ist. Selbst wenn sich alle noch so akribisch gesammelten Messwerte vom Blutdruck über das Körpergewicht bis zum Zustand der Darmflora innerhalb der definierten Normen bewegen, heisst das noch lange nicht, dass man wirklich gesund ist. «Mens sana in corpore sano», sagten schon die alten Römer: Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Das bedeutet nicht nur, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht, sondern eben auch umgekehrt, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn nicht auch der Geist gesund ist.

Und zu diesem Geist gehören eben nicht nur der Intellekt und die Gefühle, sondern auch das Soziale, das sich von der Ganzheitlichkeit des Lebens nicht abtrennen, abspalten oder verdrängen lässt, wie es uns im Zeitalter permanenter «Selbstoptimierung» stets vorgegaukelt wird und letztlich einzig und allein der «Gesundheit» all jener dient, die auf die eine oder andere Weise aus dem Gesundheitsmarkt und der Gesundheitsindustrie einen materiellen Nutzen ziehen und deshalb alle diese Verrücktheiten angeblicher «Gesundheitsförderung» immer noch weiter und weiter auf die Spitze treiben.

Reich sein und keine Gefühle und kein Mitleid haben mit Armen. Üppige Mahlzeiten einzunehmen in einer Welt, wo jeden Tag eine Milliarde Menschen hungrig zu Bett gehen. Fleisch essen, Auto fahren und fliegen, wo man doch weiss, dass dadurch sämtliche Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört werden. Reich werden durch Anteilscheine an Rüstungskonzernen, dank dem Tod Abertausender unschuldiger Kinder, Frauen und Männer. In schamloser Höhe auf Kosten anderer Dividenden und Kapitalgewinne einstreichen, ohne selber dafür arbeiten zu müssen. Lebensgeschichten von Flüchtlingen zu kennen mit all den viel zu vielen Narben auf ihren Körpern und in ihren Seelen, ohne alles in Bewegung zu setzen, um solchen aus Not, Verfolgung und Kriegen entflohenen Menschen eine neue Heimat zu bieten oder aber, alles zu tun im Kampf für eine gerechtere Welt, in der alle Menschen so gut leben können, dass niemand mehr gezwungen sein wird, seine Heimat zu verlassen und an einem ihm gänzlich fremdem Land eine neue Existenz aufzubauen. All das, alles blinde Leben auf der Sonnenseite ohne Mitgefühl für die Menschen auf der Schattenseite, kann nicht wirklich gesund machen, auch wenn man noch so viele Joggingrunden dreht, noch so viele Schlaftherapien absolviert und noch so ausgeklügelte und «gesunde» Nahrung zu sich nimmt.

Wirklich gesund werden können wir nur, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der Mensch eben nicht ein pures Einzelwesen ist, sondern immer auch Teil eines grossen Ganzen, in dem wir alle gegenseitig füreinander verantwortlich sind, sich alle, denen es besser geht, um jene kümmern müssen, denen es schlechter geht, und wir nur dann wirklich gesund sein können, wenn alle anderen – inklusive Erde, Pflanzen und Tiere – ebenfalls gesund sind, und dies nicht nur innerhalb eines einzelnen Dorfes, einer einzelnen Stadt oder eines einzelnen Landes, sondern weltweit. Solange Milliarden von Menschen, die unter Armut, Hunger, Verfolgung, wirtschaftlicher Ausbeutung, Erniedrigung und Kriegen leiden, nicht gesund sein können, können auch wir, die Reichen und Privilegierten, nicht wirklich gesund sein. Und jegliches Verdrängen, jede Selbstverleugnung, jeder Versuch, die Augen davor zu verschliessen, würde uns nur noch kränker machen.

Weiterführende Texte zu meinem Buch DIE SCHULE NEU ERFINDEN – DAMIT DAS LERNEN WIEDER FREUDE MACHT, Teil 1

BIS KEIN KIND MEHR ZUR SCHULE GEHT

9. Oktober 2024. Eine kantonale Bildungspolitikerin meinte, als sie mein Buch gelesen hatte: „Ich teile deine Vision einer offenen Welt des Lernens anstelle der traditionellen Lehrplan- und Jahrgangsklasse voll und ganz. Ich sehe nur keinen Weg, wie man das konkret umsetzen könnte.“ Gleichzeitig nehmen die psychischen Belastungen der Kinder und Jugendlichen weiter und weiter zu, immer mehr Lehrkräfte resignieren, Eltern laufen Amok, Schulbehörden verzweifeln, der Schulabsentismus greift immer weiter um sich und die Zahl der Kinder, die in Homeschooling unterrichtet werden, wächst von Jahr zu Jahr. Eine radikale Veränderung wird kommen, so oder so. Wenn nicht von innen, dann von aussen. An das „von innen“ glaube ich je länger je weniger. Wahrscheinlich lässt sich diese Schule wirklich nicht radikal verändern, sondern nur auflösen, um etwas von Grund auf Neuem Platz zu machen. Vielleicht müssen wir einfach diese Gegenwelt des offenen, freien, selbstbestimmten und total individuellen Lernens so stark und attraktiv aufbauen, bis eines Tages kein einziges Kind mehr zur traditionellen Schule geht. Dann nimmt mich Wunder, was die Lehrerinnen und Lehrer machen, wenn sie eines Morgens alleine in ihren Schulzimmern sitzen und die Kinder und die Jugendlichen, auf denen sie ein Leben lang herumgehackt haben, einfach nicht mehr erscheinen…

ZWEI LERNSTUNDEN ZWISCHEN CHUR UND CELERINA

15. Oktober 2024. Lernen findet überall im Alltag statt, ob wir wollen oder nicht. Schulen im traditionellen Sinne, in der Art und Weise, dass man 20 oder 25 Kinder in ein Zimmer einsperrt und sie einem vorgegebenen Lehrplan unterwirft, sind in Bezug auf das Lernen nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich. Im Zug von Chur nach Celerina sitzt ein Grossvater mit drei Enkelinnen im Alter zwischen fünf und zehn Jahren. In seinem sympathischen Bündner Dialekt und stets mit einem Schmunzeln im Gesicht erzählt er eine Geschichte nach der andern und zwei Stunden lang ohne Pause sind die Mädchen Aug und Ohr, hängen buchstäblich an seinen Lippen, saugen jedes seiner Worte auf und lachen immer wieder laut auf. Jede Geschichte löst bei den drei Kindern weitere Fragen aus und aus jeder dieser Fragen entsteht wieder eine neue Geschichte, wie ein Baum, der immer wieder neue Zweige und neue Blüten hervorzaubert. Ich glaube, das könnte noch zehn Stunden so weitergehen und wäre immer noch nicht langweilig. So sehr es dem Grossvater Spass macht, seine Geschichten zu erzählen, so sehr scheint es den Kindern Spass zu machen, ihm zuzuhören. Ich glaube nicht, dass diese drei Mädchen so schnell wieder vergessen werden, was ihr Grossvater ihnen während diesen zwei Stunden alles erzählt hat. Lernen in Reinkultur. Es ist so spannend, dass auch ich, zwei Abteile davon entfernt, zuhören muss, ob ich will oder nicht. Gerade erklärt er in allen Einzelheiten, wie man Holz scheitet. Einem der Mädchen kommt dabei der „Hau-den-Lukas“ in den Sinn, den sie mal auf einem Jahrmarkt sah. Und schon ist der Jahrmarkt das nächste Thema. Weiter geht es mit dem Schulweg des Grossvaters, was er als Kind dabei alles erlebte, was für Strafen es damals in der Schule gab und dass man sogar zehn Minuten nachsitzen musste, wenn man sich während des Unterrichts am Kopf kratzte. Weiter mit Geschichten aus dem Militär, wie man von den Vorgesetzten herumschikaniert wurde. Dann hat eines der Mädchen die Karte mit dem Bündner Eisenbahnnetz entdeckt, die auf der Tischplatte am Zugfenster zu sehen ist. Und schon ist der Grossvater in einem neuen Element und schöpft aus seinem fast endlos scheinenden Wissen: Wie man das Eisenbahnnetz plante, wann und wo, wie man die Brücken baute und die Tunnels, was daran schwierig war und welche der Pläne realisiert werden konnten und welche nicht und weshalb. Dann der Blick durchs Fenster hinaus, neue Bilder, neue Fragen, ein Bach, der endlos weitersprudeln würde, wenn wir nicht gerade in Celerina angekommen wären und alle den Zug verlassen müssten. Was für eine Heiterkeit auf den Gesichtern des Grossvaters und seiner drei Enkelkinder. „Lernen ohne Freude“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „ist keinen Heller wert.“

POLITIKER DIE VON PÄDAGOGIK KEINE AHNUNG HABEN

16. Oktober 2024. Fast täglich schiesst FDP-Präsident Thierry Burkhart in den Medien aus allen Rohren gegen Inklusion, Integration, spricht von „immer mehr verhaltensgestörten Kindern“ und fordert die Wiedereinführung von Klein- und Sonderklassen. Ein Politiker, der von Pädagogik rein gar nichts versteht, hat die Themenführerschaft übernommen, wenn es darum geht, wie sich die Schule in Zukunft verändern und entwickeln sollte. Dabei ist doch nicht die Integration das Problem, auch nicht die Inklusion, auch nicht „verhaltensgestörte Kinder“ und auch nicht „schwierige Eltern“. Das eigentliche Grundproblem ist doch die Fiktion der Jahrgangsklasse, die auf der Illusion beruht, man könnte 20 oder 25 Kinder nach dem gleichen Lehrplan, mit den gleichen Methoden und im gleichen Tempo sinnvoll und erfolgreich unterrichten, bloss weil sie im gleichen Jahr geboren wurden. Tatsächlich kann eine Schulklasse nie homogen sein, auch wenn man sich das noch so sehr wünschte. Schon zwei Kinder bilden eine heterogene Lerngruppe. Homogen wäre die Klasse erst, wenn sie aus einem einzigen Kind bestehen würde. Denn glücklicherweise ist die grösstmögliche Verschiedenartigkeit das wesentlichste Merkmal des Menschen. Nicht die Inklusion muss abgeschafft werden, sondern nur die Schule in ihrer heutigen Form. Denn diese schlägt sich bloss mit Problemen herum, die es ohne sie gar nicht gäbe.

DEMOKRATISIERUNG DES GESCHICHTSUNTERRICHTS

17. Oktober 2024. In der traditionellen Lehrplanschule bekommen alle Kinder einer Schulklasse den genau gleichen Geschichtsunterricht, vorgegeben durch den staatlichen Lehrplan und geprägt von einer einzelnen Lehrperson. Ihnen ist das Kind ohne Alternative ausgeliefert. Ganz anders in einer offenen Lernwelt, wo verschiedenste Angebote in Form von Filmen, Büchern, Kursen, Referaten, Workshops und Debattierklubs zur Verfügung stehen, aus denen sich alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen je nach Interessen ihren jeweiligen eigenen „Geschichtsunterricht“ zusammenzimmern können. Nicht politische Parteien bzw. politische Mehrheitsverhältnisse, nicht irgendwelche Interessengruppen oder „Bildungsexperten“ bzw. „Bildungsexpertinnen“ würden dann aufgrund gegenseitiger Machtkämpfe über die Inhalte des Vermittelten bestimmen, sondern einzig und allein die Lernenden selber. Dies gilt freilich auch für alle anderen Wissensgebiete ebenso.

13. Montagsgespräch vom 14. Oktober 2024: KI – Chancen, Grenzen und Gefahren

KI könne, so wurde mehrfach gesagt, in einzelnen Lebensbereichen wie auch in der Arbeitswelt wichtige Fortschritte beflügeln, so etwa bei der Entwicklung von Hörgeräten, in der Unterstützung von komplizierten chirurgischen Eingriffen, bei der Betreuung oder bei therapeutischen Massnahmen im Alters-, Pflege- oder Behindertenbereich, in der Verwaltung durch Verschlankung von Abläufen sowie in der Landwirtschaft.

Wo es um Informationsbeschaffung geht, sei der Faktencheck wichtig. Nicht alles, was KI liefere, sei vertrauenswürdig. Vor allem seien die Quellen nicht transparent, sodass auch extreme und einseitige Inhalte einfliessen könnten. Den Schreibprogrammen standen mehrere Diskussionsteilnehmende skeptisch gegenüber. Wer Texte von KI schreiben lasse und nicht mehr selber formuliere, könne unter Umständen wichtige Grundfertigkeiten wie etwa die Kreativität mit der Zeit einbüssen. Auch würden von KI zusammengestellte Briefe die Authentizität der Schreibenden verwässern. Hätte man früher aufgrund eines besonders freundlich formulierten Briefs auf den Charakter der betreffenden Person schliessen können, so handle es sich heute meistens um vorgegebene Textbausteine, hinter denen sich die Schreibenden verstecken könnten. Zu befürchten sei auch der Verlust zahlloser Arbeitsplätze durch KI.

KI berge, so mehrere Voten, Gefahren im Bereich von Betrügereien, indem man zum Beispiel bereits Stimmen täuschend echt nachahmen könne. Auch die Machtkonzentration bei ein paar wenigen Grosskonzernen, die weitgehend über Inhalt und Verwendung von KI entscheiden, sei problematisch, weil nicht transparent sei, wer dahinter stecke und welche Interessen dabei verfolgt würden, insbesondere dann, wenn es darum ginge, Kontrolle über andere Menschen auszuüben und diese zu manipulieren. Besonders gefährlich könnte KI im Bereich von Kriegsführung sein, wenn Entscheide so schnell gefasst würden, dass der Mensch gar keine Chance mehr hätte, rechtzeitig einzugreifen und Schlimmes zu verhindern. Aus ökologischer Sicht zu denken geben müsste auch der massive Energie- und Wasserverbrauch, der für die Entwicklung von KI erforderlich sei. Fazit: KI könne in einzelnen konkreten Anwendungen durchaus wertvolle Dienste leisten. Wer aber, wie etwa KI-Forscher Demis Hassbis von der EPF Lausanne, davon träume, dass erst KI die Menschheit zur „vollen Entfaltung“ bringen könne, bewege sich wohl eher im Bereich von Religion als von Wissenschaft. Denn das, was den Menschen ganz wesentlich von der Maschine unterscheide, darin war sich fast die gesamte Diskussionsrunde einig, nämlich das Emotionale, die Gefühle und das Zwischenmenschliche, könnte niemals durch KI ersetzt werden. Es wäre ja auch absurd, wenn der Mensch technischen „Fortschritt“ bloss zu dem Zwecke vorantreiben würde, um sich letztlich selber überflüssig zu machen.

Eine Kellnerin und hundert Gäste: Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft pur an einem Sonntagnachmittag im Bahnhofrestaurant

Alle Tische sind besetzt und am Eingang stehen schon ungeduldig ein paar weitere, die unbedingt auch noch einen Platz wollen. Und wenn sie dann einen haben: Alles muss möglichst rasch gehen, denn der Zug wartet nicht und wird auf die Sekunde abfahren…

Die Kellnerin hetzt von Tisch zu Tisch, hier abräumen und einen Berg Teller zur Geschirrsammelstelle schleppen, dort eine Bestellung aufnehmen, hier einem älteren englischsprachigen Ehepaar die Speisekarte erklären, dort einen Tisch putzen und neues Gedeck sowie die Speisekarte auflegen, hier die bestellten Speisen und Getränke servieren, dort den Rechnungsbetrag einziehen, am einen Tisch bar, am nächsten mit der Kreditkarte und wieder an einem anderen mit Twint. Steht sie an einem der Tische und nimmt die Bestellungen auf, schnippen hinter ihr schon drei weitere Gäste mit den Fingern, rufen „Bedienung!“, wollen ebenfalls so schnell wie möglich etwas bestellen oder schon wieder bezahlen, um den Tisch freizugeben für die Nächsten. Was für eine unglaubliche Leistung. Nur mit der alleräussersten Anstrengung schafft sie es, die Gäste immer gerade so weit zufriedenzustellen, dass nicht plötzlich einer ausrastet und die Nerven verliert, weil er zu lange warten musste. Wie ein auf die maximale Höchststufe getrimmter Roboter hetzt sie mit den schnellstmöglichen Schritten von Tisch zu Tisch, die längeren Strecken zur Speiseausgabe und wieder zurück zu den Tischen oder hinüber zur Geschirrsammelstelle legt sie meistens im Laufschritt zurück. Kein Wunder, ist sie total ausser Atem, als sie an meinem Nebentisch eine Bestellung aufnimmt und zuerst einmal tief Luft holen muss, bevor sie die Frage des älteren Herrn beantworten kann, welchen Wein sie ihm zu dem von ihm ausgesuchten Menu empfehlen würde. Als der Herr zwischendurch ungeduldig auf seine Uhr schaut, sagt sie, es tue er leid, dass er so lange warten musste, aber es sei im Moment einfach unglaublich viel los. Vermutlich wären selbst drei Angestellte, wenn man die Arbeit der Kellnerin auf diese verteilen würde, immer noch mehr als ausgelastet…

Aber das Verrückteste ist, dass sie, kaum ist sie an einem Tisch angekommen, jedes Mal die Ruhe selbst ist. Als könnte sie pausenlos vom Modus höchster Geschwindigkeit ohne Übergang in einen Modus absoluter Ruhe und Gelassenheit wechseln. Mit unfassbarer Geduld wartet sie, stets freundlich lächelnd, bis sich die Gäste, oft nach langem Hin und Her, für eines der Menus sowie Getränke und mögliche Zusatzwünsche entschieden haben, während an allen Ecken und Enden viele andere ebenfalls darauf warten, bedient zu werden. Mir fällt auf, dass sie sogar manchmal dem einen oder anderen Gast die Hand auf die Schulter legt, sich auf einen kurzen Smalltalk einlässt oder laut auflacht, wenn an einem Tisch die eine oder andere witzige Bemerkung fällt. Nun ja, die Gastgeberin in Reinkultur, wie man sie sich perfekter nicht vorstellen könnte: Einerseits eine Arbeitsmaschine auf Höchsttouren, anderseits mit so viel Wärme, Fröhlichkeit und persönlicher Ausstrahlung ausgestattet, dass nicht nur den kulinarischen, sondern auch den emotionalen Bedürfnissen der Gäste nur das Allerbeste geboten wird. Und ja, was denn sonst: eine Ausländerin!

Und auf einmal frage ich mich: Wo sind denn die anderen Angestellten des Restaurants? Meine Blicke überfliegen den grossen, fast bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Und ja, ob man es glauben will oder nicht: In der einen Hälfte des Saales mit mindestens hundert Plätzen sehe ich nur sie an der Arbeit. In der anderen Hälfte des Saales, mit ebenfalls rund hundert Plätzen, sind es drei Männer, die ich dort arbeiten sehe und die sich um einiges langsamer und gemächlicher von Tisch zu Tisch bewegen. Ist das von den Vorgesetzten bewusst so geplant? Oder ist es etwas, was sich einfach sozusagen von selber daraus ergibt, wenn eine Frau sich bis zum Äussersten aufopfert und die Männer so die Möglichkeit bekommen, sich immer weiter nach und nach zurückzuziehen?

Aber noch viele weitere Fragen schwirren mir durch den Kopf: Um wie viel höhere Einkommen als diese Kellnerin haben wohl all jene, die auf den „höheren Ebenen“ dieses Gastrounternehmens angesiedelt sind, als Verwalter, Geschäftsführer, Buchhalter und was immer bis hinauf zum Manager und noch weiter hinauf zu den Besitzern, wahrscheinlich Aktionäre, die von jedem Franken, welche die Kellnerin bis zum Umfallen erschuftet, die Hälfte einsacken, ohne dafür auch nur einen Fuss vor den andern setzen und ohne Riesenberge von Geschirr schleppen zu müssen und ohne der permanenten Ungeduld all jener ausgesetzt zu sein, die auf keinen Fall ihren Zug verpassen dürfen? Müssten nicht eigentlich sie, die dank möglichst niedriger Lohnkosten ihren Profit aus dem Unternehmen quetschen, und nicht die Kellnerin, dafür entschuldigen, wenn ein Gast zu lange warten musste?

Kapitalistisch-patriarchale Klassengesellschaft wie seit eh und je, drastischer könnte ich sie an diesem Sonntagnachmittag in diesem Bahnhofrestaurant nicht mitbekommen haben. Und als dann, als Tüpfelchen auf dem i, nicht etwa die Kellnerin, sondern einer der Männer, den ich bis jetzt fast immer nur neben der Kasse herumstehen gesehen habe, mit der Rechnung zu mir an den Tisch kommt und dies vermutlich nicht zuletzt mit der Erwartung auf ein nettes Trinkgeld verbindet, verliere ich für einen kurzen Augenblick jeglichen Glauben daran, dass die Gleichberechtigung von Frauen in den vergangenen zehn oder zwanzig Jahren tatsächlich auf breiter Ebene Fortschritte gemacht hat. Zumindest nicht in diesem Bahnhofrestaurant an diesem Sonntagnachmittag. Und wahrscheinlich ebenso wenig an unzähligen anderen Orten der kapitalistischen Arbeitswelt. Bevor ich das Restaurant verlasse, gehe ich zur Kellnerin, danke ihr für ihre unglaubliche Arbeitsleistung und ihre unfassbare Freundlichkeit inmitten von soviel Stress und drücke ihr fünf Franken in die Hand. „Danke“, sagt sie, „ich versuche einfach, mein Bestes zu geben.“ Es sind vermutlich nicht viele, die ihr an diesem Sonntagnachmittag dafür gedankt haben, dass sie sich trotz eines so miesen Lohnes dermassen für das Wohl ihrer Gäste aufopfert und damit jene Basisarbeit leistet, ohne welche sämtliche ihrer Vorgesetzten, Chefs und Besitzer auch nicht einen einzigen Franken verdienen könnten…

Zuletzt stellt sich mir unweigerlich die Frage, wie viele der Gäste, die sich heute in diesem Restaurant von Ausländerinnen und Ausländerinnen bedienen lassen, möglicherweise die Gleichen sind, die bei jeder anderen Gelegenheit mit denen mitbrüllen, die sich die „Ausländer-raus-Parolen“ auf die Fahnen geschrieben haben. Würden sie dann, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer endlich „raus“ wären, wohl das Essen im Restaurant selber kochen und sich selber bedienen? Würden sie, wenn alle Ausländerinnen und Ausländer „raus“ wären, ihre Strassen und Häuser wieder selber bauen, und würden sie, wenn sie einmal alt geworden wären und im Alters- oder Pflegeheim leben würden, ihre Windeln selber wechseln? Wohl kaum. Wächst doch die Zahl jener, die genug Geld haben, um sich an allen Ecken und Enden von anderen bedienen zu lassen, in gleichem Masse, wie die Zahl jener abnimmt, die überhaupt noch bereit sind – und wenn, dann nur, weil sie keine andere Wahl haben -, zu miesen Bedingungen andere rund um die Uhr bedienen zu müssen und sich dabei erst noch alle möglichen Schikanen gefallen zu lassen. Bis dann vielleicht eines Tages diese Kellnerin noch die Einzige sein wird und ganz alleine über zweihundert Gäste bedienen wird, während draussen beim Eingang weitere zweihundert ungeduldig warten, damit sie ihren Zug auf keinen Fall verpassen werden…

Ausgeklinkt

Bahnhof St. Gallen, zwischen dem Ausstieg aus dem soeben angekommenen Zug und dem Weg zum Bahnhofplatz. Eine junge Mutter, sie schiebt den Kinderwagen mit ihrem Baby, neben ihr die etwa fünfjährige Tochter, die beim Schieben des Kinderwagens mithilft, Mutter und Kind plaudern eifrig. Einen halben Meter hinter ihnen der Papa, die Ohren zugepflastert mit einem grossen dicken Kopfhörer.