Sonntagszeitung vom 28. April 2024: Psychische Probleme – alles nur eingebildet?

„Entgegen der landläufigen Meinung nimmt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nicht zu“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Dirk Richter. Dass sich 14 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen – bei den jüngeren Frauen sogar 29 Prozent – als „mittel bis schwer psychisch belastet“ fühlen, führt Richter vor allem darauf zurück, dass sich die „gesellschaftliche Wahrnehmung“ in Bezug auf psychische Probleme stark verändert habe. Daraus aber nun den Schluss zu ziehen, das meiste sei bloss „eingebildet“, erscheint mir doch allzu voreilig. Auch die Aussage des Buchautors und Arztes Adrian Massey, wonach jeglicher Sinn dafür, was psychische Krankheiten seien, verloren gegangen sei, wenn diese bis zu 50 Prozent der Bevölkerung beträfen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass zunehmender Zeitdruck und Stress am Arbeitsplatz, Überarbeitung, fehlende Sinnhaftigkeit in der beruflichen Tätigkeit, der wachsende gegenseitige Konkurrenzkampf, der beständige Zwang zur Selbstoptimierung, fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte, Zukunftsängste, Vereinsamung, Armut und der wachsende Leistungsdruck in den Schulen tatsächlich zu einer Zunahme psychischer Belastungen führen. Dann helfen freilich Therapien und Medikamente auch nicht weiter, sondern nur die Vermenschlichung und Entschleunigung eines Wirtschaftssystems, das viel zu stark auf materielle Profitmaximierung ausgerichtet ist und viel zu wenig auf die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Menschen.