Täglich ein Drittel unserer Wachzeit vor einem Bildschirm: Höchste Zeit, Nützliches von Schädlichem, Sinnvolles von Überflüssigem zu trennen…

Internet, soziale Medien, Computerspiele und Videos verschlingen inzwischen rund einen Drittel unserer Wachzeit, so war in dem am 24. April 2024 auf ORF 1 ausgestrahlten Dokumentarfilm “Smarte Kids? Kinder und digitale Medien” zu erfahren. Das typische Vorschulkind verbringt etwa vier Stunden pro Tag vor irgendeiner Art von Bildschirm, in den USA sind es sogar sechs Stunden pro Tag. Immer mehr Kinderärzte schlagen Alarm und warnen vor den schädlichen Auswirkungen übermässigen digitalen Medienkonsums auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Auch Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Schlafstörungen, Übergewicht, Ängstlichkeit und zunehmende Beziehungslosigkeit zwischen den Kindern und ihren Eltern sind höchstwahrscheinlich zu einem grossen Teil auf die massive Bild- und Informationsflut zurückzuführen, der schon kleinste Kinder von früh bis spät ausgesetzt sind. Was in den USA schon lange Normalität ist, nämlich, dass der Fernsehapparat Tag und Nacht läuft, vor dem Fernseher gegessen und die Hausaufgaben erledigt werden und es in vielen Familien nicht einmal mehr einen Esstisch gibt, diese “Normalität” greift immer mehr auch auf die europäischen Länder über. Begann der Fernsehkonsum im Jahre 1970 noch im Alter von durchschnittlich vier Jahren, sitzen heute schon Kinder im Alter von vier Monaten vor dem Fernseher. Und dies, obwohl das Gehirn in diesem Alter noch gar nicht die Fähigkeit besitzt, eine so schnelle und dichte Bildfolge zu bewältigen. Zudem ist, wie Experimente gezeigt haben, das Kind erst im Alter von etwa drei Jahren fähig, zweidimensionale von dreidimensionalen Ansichten zu unterscheiden, das heisst: Es hat vor dem Erreichen dieses Alters noch keine reale, konkrete, verinnerlichte Vorstellung davon, was auf dem Bildschirm tatsächlich dargestellt wird. Trotzdem verbringen etwa ein Drittel aller Kinder schon vor dem zweiten Lebensjahr täglich bis zu 90 Minuten vor dem Bildschirm – nutzlos vergeudete und verlorene Zeit in Bezug auf ihre Lernentwicklung, die viel schneller voranschreiten würde, wenn sie sich während dieser Zeit mit Bauklötzen, Legosteinen, Zeichnen, Malen, Basteln, Rollenspielen oder anderen altersgerechten Tätigkeiten beschäftigen würden.

Diejenigen, welche alle diese digitalen Verführungen produzieren, wissen haargenau, welche Mittel sie anwenden müssen, um möglichst viele Menschen schon von klein auf in ihren Bann zu ziehen und von ihnen abhängig zu machen, so dass sich das Konsumverhalten nach und nach immer weiter potenziert. Dabei spielen Belohnungssysteme eine zentrale Rolle. Wenn man in einem Videospiel einen Punkt gewinnt, einen Sieg erringt oder, in den sozialen Medien, ein Herzchen, irgendein Glückssymbol oder gar einen neuen “Freund” oder eine neue “Freundin” erobert, dann wird jedes Mal im Gehirn ein Glücksgefühl ausgelöst, das sich mit jenem vergleichen lässt, das auch mit Nahrungsaufnahme, Drogenkonsum oder Sex verbunden ist und nach immer mehr und mehr davon verlangt. Dabei zeichnen sich Videospiele durch ein besonders hohes Suchtpotenzial aus, vergleichbar jenem, auf dem auch schon in vordigitalen Zeiten die Glücksspielindustrie beruhte, damit unzählige Menschen in eine existenzgefährdende Verschuldung trieb und katastrophale volkswirtschaftliche Folgen zeitigte. Seit 2018 gilt die Videospielsucht gemäss WHO als ein Krankheitsbild, welches mit einer Kokainsucht vergleichbar ist. Videospielsucht kann zu einem völligen Verlust jeglichen Zeitgefühls führen, häufig wird so lange und so exzessiv gespielt, bis es den Betroffenen schwarz vor den Augen wird, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen auftreten oder es gar zu einem völligen psychischen Zusammenbruch kommt. In China, Südkorea und den USA, wo Videospielsucht besonders weit verbreitet ist, gibt es bereits spezielle Entzugsanstalten, um betroffenen Jugendlichen für teures Geld mit militärischem Drill ihre Sucht wieder auszutreiben. Doch nicht nur das Suchtpotenzial macht Videospiele so gefährlich. Hinzu kommt, dass viele der besonders beliebten dieser Spiele auf dem Prinzip beruhen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele “Feinde”, die von allen Seiten heranstürmen, abzuknallen. Um sich vorzustellen, was dies wiederum, wenn man es täglich stundenlang tut, in den Köpfen der Gamerinnen und Gamer bewirkt, hierfür braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie…

Dass uns allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass im Bereich des digitalen Medienkonsums allzu vieles schief läuft und insbesondere Kinder in viel zu frühem Alter allen möglichen Formen von Dauerberieselung ausgesetzt sind, die einer gesunden, ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung kaum besonders förderlich sind, scheint in einer so technologie- und wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unseren nicht zu genügen. Deshalb werden, wie im erwähnten Dokumentarfilm gezeigt wird, alle möglichen und unmöglichen Experimente und Studien durchgeführt, um das, was allgemein vermutet wird, sozusagen hieb- und stichfest zu “beweisen”. So zum Beispiel werden Experimente durchgeführt, bei denen Mäuse während sechs Stunden pro Tag pausenlosem Blitzlichtgewitter ausgesetzt werden, um herauszufinden, was für jedes Kind auch ohne ein solches Experiment logisch ist, nämlich, dass diese Mäuse mit der Zeit völlig irre und orientierungslos in ihren Käfigen hin und her rasen – was für eine Grausamkeit, die hier unter dem Vorwand einer völlig überflüssigen und unnötigen “Forschung” betrieben wird! Mittels einer weiteren Studie, welche zurzeit mit 12’000 Kindern und Jugendlichen in 21 speziell zu diesem Zweck geschaffenen Untersuchungszentren in den USA durchgeführt wird, will man “wissenschaftlich” herausfinden, was für einen Einfluss digitaler Medienkonsum auf die Entwicklung des Gehirns im Kindes- und Jugendalter hat. Zu diesem Zweck werden die Probandinnen und Probanden alle drei Monate einer Computertomographie unterzogen, dabei werden ihnen – absurder geht es nun wirklich nicht mehr – Videofilme vorgespielt, damit sie sich während der Dauer der Untersuchung möglichst nicht bewegen. Um “aussagekräftige” Ergebnisse zu bekommen, muss die Studie über mindestens sieben Jahre hinweg erfolgen, sodass die möglichen Spätfolgen problematischer Gehirnveränderungen erst zu einem Zeitpunkt feststehen werden, in dem die untersuchten Kinder von den Ergebnissen der an ihnen vorgenommenen Analysen selber gar nicht mehr profitieren werden. Gleichzeitig werden aller Voraussicht nach in der Zwischenzeit bereits wieder zahlreiche neue digitale Produkte auf dem Markt angekommen sein, welche von den laufenden Untersuchungen noch gar nicht erfasst wurden – ein sich ständig beschleunigendes Wettrennen, bei dem die Wissenschaft gegenüber der Technologie laufend den Kürzeren zieht. Den grössten kurzfristigen Nutzen daraus ziehen wohl in erster Linie all jene, die als Produzenten von Messgeräten, Programmierern von Testverfahren oder “Expertinnen” und “Experten” bei der Durchführung und der Auswertung der Studienergebnisse ihr ganz grosses Geschäft machen.

“Tablets sind auf den Markt gekommen, bevor wir die Risiken ihrer Nutzung erforscht haben”, bringt es Daphné Bavelier, Neurowissenschaftlerin an der Universität Genf, auf den Punkt. Das gilt nicht nur für Tablets, sondern für die technologische Entwicklung insgesamt. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet, aus ihr sprudeln in immer grösserer Anzahl und in immer höherem Tempo Verlockungen aller Art hervor und ziehen uns in ihren Bann, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten, uns mit ihren vielfältigen, komplexen und widersprüchlichen Sonnen- und Schattenseiten ernsthaft auseinanderzusetzen. Produziert wird einfach, was technisch möglich ist und was sich gewinnbringend verkaufen lässt, sozusagen ohne alle Rücksicht auf mögliche Opfer. Die ethische Frage, die Frage, was sinnvoll ist und was nicht, was den Menschen schadet und was ihnen nützt, die Frage, welches all die damit verbundenen ökologischen Folgen sind, woher all die Rohstoffe und all die Energie kommt, die es für die Aufrechterhaltung aller dieser Beschäftigungen braucht und wie lange diese Rohstoffe und diese Energie überhaupt in genügendem Masse vorhanden sein werden – all dies ist vollkommen in den Hintergrund getreten, aus der öffentlichen Debatte ausgeklammert. Als wäre die Technologie im Bunde mit der sogenannten “freien Marktwirtschaft” so etwas wie eine schicksalshaft über uns gekommene Gottheit, der wir uns nahezu willen- und kritiklos ausliefern müssten, um als Konsumentinnen und Konsumenten ganz allein selber dafür verantwortlich zu sein, wie wir damit umgehen, um allzu grossen Schaden von uns fernzuhalten…

Allerhöchste Zeit für einen radikalen Marschhalt. Es gilt, das Bestehende auf den Kopf zu stellen. Nicht zuerst die neuen Technologien und dann, im Nachhinein, die Fragen, Experimente und Untersuchungen, ob sie nützlich oder schädlich sind. Sondern genau umgekehrt: Zuerst die Frage, was aufgrund ethischer, sozialer, psychologischer, menschlicher, pädagogischer und ökologischer Erwägungen sinnvoll und verantwortbar ist, und dann erst, basierend auf diesen Erkenntnissen, der Entscheid darüber, welche Ideen weiterverfolgt werden sollen und welche nicht. Zudem muss es unbedingt darum gehen, sämtliche damit verbundenen Interessen offenzulegen. Damit neue Ideen, neue Produkte, neue Technologien, neue technische Werkzeuge und Instrumente nicht mehr länger vor allem deshalb in die Welt kommen, damit irgendwer damit möglichst viel Geld verdienen kann, sondern deshalb, weil sie den Menschen tatsächlich einen Nutzen bringen, das Leben erleichtern und es schöner machen, eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, gesellschaftliche Fortschritte ermöglichen, den Zugang zu Informationen demokratisieren und Menschen miteinander in Verbindung bringen, die sonst kaum je den Kontakt zueinander gefunden hätten.

Es ist absolut nicht einzusehen, weshalb nicht auch der Zugang zu digitalen Medien mit ihrem nachweislich starken Suchtpotenzial ebenso restriktiven Altersbeschränkungen unterliegen sollte wie der Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Die Grosszügigkeit und Allgegenwart, mit der digitale Medien fast jederzeit und überall angeboten, ja geradezu angepriesen und als scheinbar unentbehrlicher Bestandteil des Alltagslebens als selbstverständlich angesehen werden, steht in einem unbegreiflichen Gegensatz zu fast allen anderen täglichen Betätigungsfeldern und Alltagsgewohnheiten. Kein Mensch käme auf die Idee, in seinem Haus oder seiner Wohnung auf jedem Möbelstück eine kleine Schale mit Gummibärchen, Smarties und Sauernudeln aufzustellen, um den Kindern jederzeit und überall den Konsum dieser Süssigkeiten zu ermöglichen – wo es aber um den Fernseher, das Tablet, den Computer oder das Smartphone geht, tun wir genau dies.

Die gesellschaftliche Debatte müsste aber noch weit darüber hinausgehen. Besteht durch die Omnipräsenz der digitalen Welt nicht auch die Gefahr einer tiefgreifenden Entwurzelung der Menschen schon von klein auf von der realen, sinnlichen, greif- und fühlbaren Welt, von der Natur, den Tieren und Pflanzen, von der Erde, dem Wetter, dem Erleben der unterschiedlichen Jahreszeiten? Jede Minute mehr, die an einem Bildschirm verbracht wird, jede Minute mehr, in der mit der Maustaste ein künstlicher Hund gefüttert wird, ist eine Minute weniger, die mit gemeinsamem Spielen, Zusammensein mit Freunden, im Garten oder im Wald verbracht oder in der einem echten Hund Nahrung gegeben wird. Zeiten, die für alles Mögliche und Erdenkliche zur Verfügung stünden, werden, wie in ein schwarzes Loch, in immer grösserem Ausmass von den digitalen Medien aufgesogen und weggefressen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei den Erwachsenen. Kein Wunder, bleibt am Ende dann kaum noch Zeit für echte zwischenmenschliche Begegnungen, für Vereinsarbeit sowie für ehrenamtliches und politisches Engagement – lauter gesellschaftlich wichtige und für das Funktionieren einer Demokratie geradezu unverzichtbare Tätigkeiten, wo es zunehmend schwieriger wird, genügend Nachwuchs zu finden.

Viele Menschen empfinden die digitale Welt als willkommenen Ausgleich zu den Belastungen, dem Zeitdruck und dem Stress in der Arbeitswelt und der Schule. Zweckfrei und ziellos surfen, in die Welt hinaus träumen, in Phantasiewelten eintauchen, sich spannende Filme “hineinziehen”, Musik hören, Veranstaltungsangebote in der näheren und weiteren Umgebung abchecken, Hotelpreise vergleichen, Ferienziele durchforsten, in den sozialen Medien möglichst viele neue Leute mit ihren Vorlieben und Lieblingsbeschäftigungen “kennenlernen”, Ferienfotos und Ferienfilme in alle Welt hinausschicken, nach den Ferien die auf 300 oder 400 neue Nachrichten angewachsene Mailbox abarbeiten – es gibt in den unendlichen Weiten künstlicher Welten immer noch irgendetwas zu erledigen oder zu tun, auch wenn es noch so unnötig ist und einen noch so geringen Nutzen erbringt. Doch lenken solche “Fluchtversuche” aus der realen Welt nicht von der viel wichtigeren und grösseren Herausforderung ab, diese reale Welt eben in einer Art und Weise umzugestalten, dass alle diese Ablenkungen und Kompensationen eines Tages überflüssig geworden wären und man die digitalen Werkzeuge tatsächlich nur noch für jene Zwecke brauchen würde, die sich auf anderen Wegen nicht bewerkstelligen lassen? Ebenso wie auch Alkohol- und Nikotinkonsum, Spielsucht oder übertriebenes, bis zum Exzess betriebenes sportliches Training bei jenen Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit viel Freude, Wertschätzung und Befriedigung erfahren, weitaus seltener anzutreffen sind.

Damit sind wir freilich mitten in der Kapitalismuskritik. Denn ein auf endloses Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem ist zwangsläufig darauf angewiesen, laufend neue Bedürfnisse zu schaffen und – mithilfe immer aggressiverer Werbemethoden – die Menschen dazu anzutreiben, in wachsendem Ausmass Dinge zu kaufen und sich anzueignen, die sie für ein gutes Leben gar nicht wirklich brauchen. Als ich zehn Jahre alt war, gab es einen einzigen Fernsehsender, das schweizerische Staatsfernsehen. Tagsüber gab es kein Programm, die Sendungen begannen jeweils um 18 Uhr und zwischen 22 und 23 Uhr war Schluss. Dienstag war jeweils fernsehfrei, der Bildschirm blieb schwarz. Heute habe ich die Wahl zwischen etwa 300 verschiedenen Sendern, und dies pausenlos, Tag und Nacht, zudem kann ich mir Sendungen auch zeitversetzt noch bis zu drei Tagen später anschauen. Und doch habe ich nicht das Gefühl, in diesen 64 Jahren deswegen tausend Mal glücklicher geworden zu sein…