Sonntagszeitung vom 28. April 2024: Psychische Probleme – alles nur eingebildet?

„Entgegen der landläufigen Meinung nimmt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nicht zu“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Dirk Richter. Dass sich 14 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen – bei den jüngeren Frauen sogar 29 Prozent – als „mittel bis schwer psychisch belastet“ fühlen, führt Richter vor allem darauf zurück, dass sich die „gesellschaftliche Wahrnehmung“ in Bezug auf psychische Probleme stark verändert habe. Daraus aber nun den Schluss zu ziehen, das meiste sei bloss „eingebildet“, erscheint mir doch allzu voreilig. Auch die Aussage des Buchautors und Arztes Adrian Massey, wonach jeglicher Sinn dafür, was psychische Krankheiten seien, verloren gegangen sei, wenn diese bis zu 50 Prozent der Bevölkerung beträfen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass zunehmender Zeitdruck und Stress am Arbeitsplatz, Überarbeitung, fehlende Sinnhaftigkeit in der beruflichen Tätigkeit, der wachsende gegenseitige Konkurrenzkampf, der beständige Zwang zur Selbstoptimierung, fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte, Zukunftsängste, Vereinsamung, Armut und der wachsende Leistungsdruck in den Schulen tatsächlich zu einer Zunahme psychischer Belastungen führen. Dann helfen freilich Therapien und Medikamente auch nicht weiter, sondern nur die Vermenschlichung und Entschleunigung eines Wirtschaftssystems, das viel zu stark auf materielle Profitmaximierung ausgerichtet ist und viel zu wenig auf die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Menschen.

Täglich ein Drittel unserer Wachzeit vor einem Bildschirm: Höchste Zeit, Nützliches von Schädlichem, Sinnvolles von Überflüssigem zu trennen…

Internet, soziale Medien, Computerspiele und Videos verschlingen inzwischen rund einen Drittel unserer Wachzeit, so war in dem am 24. April 2024 auf ORF 1 ausgestrahlten Dokumentarfilm „Smarte Kids? Kinder und digitale Medien“ zu erfahren. Das typische Vorschulkind verbringt etwa vier Stunden pro Tag vor irgendeiner Art von Bildschirm, in den USA sind es sogar sechs Stunden pro Tag. Immer mehr Kinderärzte schlagen Alarm und warnen vor den schädlichen Auswirkungen übermässigen digitalen Medienkonsums auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Auch Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Schlafstörungen, Übergewicht, Ängstlichkeit und zunehmende Beziehungslosigkeit zwischen den Kindern und ihren Eltern sind höchstwahrscheinlich zu einem grossen Teil auf die massive Bild- und Informationsflut zurückzuführen, der schon kleinste Kinder von früh bis spät ausgesetzt sind. Was in den USA schon lange Normalität ist, nämlich, dass der Fernsehapparat Tag und Nacht läuft, vor dem Fernseher gegessen und die Hausaufgaben erledigt werden und es in vielen Familien nicht einmal mehr einen Esstisch gibt, diese „Normalität“ greift immer mehr auch auf die europäischen Länder über. Begann der Fernsehkonsum im Jahre 1970 noch im Alter von durchschnittlich vier Jahren, sitzen heute schon Kinder im Alter von vier Monaten vor dem Fernseher. Und dies, obwohl das Gehirn in diesem Alter noch gar nicht die Fähigkeit besitzt, eine so schnelle und dichte Bildfolge zu bewältigen. Zudem ist, wie Experimente gezeigt haben, das Kind erst im Alter von etwa drei Jahren fähig, zweidimensionale von dreidimensionalen Ansichten zu unterscheiden, das heisst: Es hat vor dem Erreichen dieses Alters noch keine reale, konkrete, verinnerlichte Vorstellung davon, was auf dem Bildschirm tatsächlich dargestellt wird. Trotzdem verbringen etwa ein Drittel aller Kinder schon vor dem zweiten Lebensjahr täglich bis zu 90 Minuten vor dem Bildschirm – nutzlos vergeudete und verlorene Zeit in Bezug auf ihre Lernentwicklung, die viel schneller voranschreiten würde, wenn sie sich während dieser Zeit mit Bauklötzen, Legosteinen, Zeichnen, Malen, Basteln, Rollenspielen oder anderen altersgerechten Tätigkeiten beschäftigen würden.

Diejenigen, welche alle diese digitalen Verführungen produzieren, wissen haargenau, welche Mittel sie anwenden müssen, um möglichst viele Menschen schon von klein auf in ihren Bann zu ziehen und von ihnen abhängig zu machen, so dass sich das Konsumverhalten nach und nach immer weiter potenziert. Dabei spielen Belohnungssysteme eine zentrale Rolle. Wenn man in einem Videospiel einen Punkt gewinnt, einen Sieg erringt oder, in den sozialen Medien, ein Herzchen, irgendein Glückssymbol oder gar einen neuen „Freund“ oder eine neue „Freundin“ erobert, dann wird jedes Mal im Gehirn ein Glücksgefühl ausgelöst, das sich mit jenem vergleichen lässt, das auch mit Nahrungsaufnahme, Drogenkonsum oder Sex verbunden ist und nach immer mehr und mehr davon verlangt. Dabei zeichnen sich Videospiele durch ein besonders hohes Suchtpotenzial aus, vergleichbar jenem, auf dem auch schon in vordigitalen Zeiten die Glücksspielindustrie beruhte, damit unzählige Menschen in eine existenzgefährdende Verschuldung trieb und katastrophale volkswirtschaftliche Folgen zeitigte. Seit 2018 gilt die Videospielsucht gemäss WHO als ein Krankheitsbild, welches mit einer Kokainsucht vergleichbar ist. Videospielsucht kann zu einem völligen Verlust jeglichen Zeitgefühls führen, häufig wird so lange und so exzessiv gespielt, bis es den Betroffenen schwarz vor den Augen wird, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen auftreten oder es gar zu einem völligen psychischen Zusammenbruch kommt. In China, Südkorea und den USA, wo Videospielsucht besonders weit verbreitet ist, gibt es bereits spezielle Entzugsanstalten, um betroffenen Jugendlichen für teures Geld mit militärischem Drill ihre Sucht wieder auszutreiben. Doch nicht nur das Suchtpotenzial macht Videospiele so gefährlich. Hinzu kommt, dass viele der besonders beliebten dieser Spiele auf dem Prinzip beruhen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele „Feinde“, die von allen Seiten heranstürmen, abzuknallen. Um sich vorzustellen, was dies wiederum, wenn man es täglich stundenlang tut, in den Köpfen der Gamerinnen und Gamer bewirkt, hierfür braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie…

Dass uns allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass im Bereich des digitalen Medienkonsums allzu vieles schief läuft und insbesondere Kinder in viel zu frühem Alter allen möglichen Formen von Dauerberieselung ausgesetzt sind, die einer gesunden, ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung kaum besonders förderlich sind, scheint in einer so technologie- und wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unseren nicht zu genügen. Deshalb werden, wie im erwähnten Dokumentarfilm gezeigt wird, alle möglichen und unmöglichen Experimente und Studien durchgeführt, um das, was allgemein vermutet wird, sozusagen hieb- und stichfest zu „beweisen“. So zum Beispiel werden Experimente durchgeführt, bei denen Mäuse während sechs Stunden pro Tag pausenlosem Blitzlichtgewitter ausgesetzt werden, um herauszufinden, was für jedes Kind auch ohne ein solches Experiment logisch ist, nämlich, dass diese Mäuse mit der Zeit völlig irre und orientierungslos in ihren Käfigen hin und her rasen – was für eine Grausamkeit, die hier unter dem Vorwand einer völlig überflüssigen und unnötigen „Forschung“ betrieben wird! Mittels einer weiteren Studie, welche zurzeit mit 12’000 Kindern und Jugendlichen in 21 speziell zu diesem Zweck geschaffenen Untersuchungszentren in den USA durchgeführt wird, will man „wissenschaftlich“ herausfinden, was für einen Einfluss digitaler Medienkonsum auf die Entwicklung des Gehirns im Kindes- und Jugendalter hat. Zu diesem Zweck werden die Probandinnen und Probanden alle drei Monate einer Computertomographie unterzogen, dabei werden ihnen – absurder geht es nun wirklich nicht mehr – Videofilme vorgespielt, damit sie sich während der Dauer der Untersuchung möglichst nicht bewegen. Um „aussagekräftige“ Ergebnisse zu bekommen, muss die Studie über mindestens sieben Jahre hinweg erfolgen, sodass die möglichen Spätfolgen problematischer Gehirnveränderungen erst zu einem Zeitpunkt feststehen werden, in dem die untersuchten Kinder von den Ergebnissen der an ihnen vorgenommenen Analysen selber gar nicht mehr profitieren werden. Gleichzeitig werden aller Voraussicht nach in der Zwischenzeit bereits wieder zahlreiche neue digitale Produkte auf dem Markt angekommen sein, welche von den laufenden Untersuchungen noch gar nicht erfasst wurden – ein sich ständig beschleunigendes Wettrennen, bei dem die Wissenschaft gegenüber der Technologie laufend den Kürzeren zieht. Den grössten kurzfristigen Nutzen daraus ziehen wohl in erster Linie all jene, die als Produzenten von Messgeräten, Programmierern von Testverfahren oder „Expertinnen“ und „Experten“ bei der Durchführung und der Auswertung der Studienergebnisse ihr ganz grosses Geschäft machen.

„Tablets sind auf den Markt gekommen, bevor wir die Risiken ihrer Nutzung erforscht haben“, bringt es Daphné Bavelier, Neurowissenschaftlerin an der Universität Genf, auf den Punkt. Das gilt nicht nur für Tablets, sondern für die technologische Entwicklung insgesamt. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet, aus ihr sprudeln in immer grösserer Anzahl und in immer höherem Tempo Verlockungen aller Art hervor und ziehen uns in ihren Bann, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten, uns mit ihren vielfältigen, komplexen und widersprüchlichen Sonnen- und Schattenseiten ernsthaft auseinanderzusetzen. Produziert wird einfach, was technisch möglich ist und was sich gewinnbringend verkaufen lässt, sozusagen ohne alle Rücksicht auf mögliche Opfer. Die ethische Frage, die Frage, was sinnvoll ist und was nicht, was den Menschen schadet und was ihnen nützt, die Frage, welches all die damit verbundenen ökologischen Folgen sind, woher all die Rohstoffe und all die Energie kommt, die es für die Aufrechterhaltung aller dieser Beschäftigungen braucht und wie lange diese Rohstoffe und diese Energie überhaupt in genügendem Masse vorhanden sein werden – all dies ist vollkommen in den Hintergrund getreten, aus der öffentlichen Debatte ausgeklammert. Als wäre die Technologie im Bunde mit der sogenannten „freien Marktwirtschaft“ so etwas wie eine schicksalshaft über uns gekommene Gottheit, der wir uns nahezu willen- und kritiklos ausliefern müssten, um als Konsumentinnen und Konsumenten ganz allein selber dafür verantwortlich zu sein, wie wir damit umgehen, um allzu grossen Schaden von uns fernzuhalten…

Allerhöchste Zeit für einen radikalen Marschhalt. Es gilt, das Bestehende auf den Kopf zu stellen. Nicht zuerst die neuen Technologien und dann, im Nachhinein, die Fragen, Experimente und Untersuchungen, ob sie nützlich oder schädlich sind. Sondern genau umgekehrt: Zuerst die Frage, was aufgrund ethischer, sozialer, psychologischer, menschlicher, pädagogischer und ökologischer Erwägungen sinnvoll und verantwortbar ist, und dann erst, basierend auf diesen Erkenntnissen, der Entscheid darüber, welche Ideen weiterverfolgt werden sollen und welche nicht. Zudem muss es unbedingt darum gehen, sämtliche damit verbundenen Interessen offenzulegen. Damit neue Ideen, neue Produkte, neue Technologien, neue technische Werkzeuge und Instrumente nicht mehr länger vor allem deshalb in die Welt kommen, damit irgendwer damit möglichst viel Geld verdienen kann, sondern deshalb, weil sie den Menschen tatsächlich einen Nutzen bringen, das Leben erleichtern und es schöner machen, eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, gesellschaftliche Fortschritte ermöglichen, den Zugang zu Informationen demokratisieren und Menschen miteinander in Verbindung bringen, die sonst kaum je den Kontakt zueinander gefunden hätten.

Es ist absolut nicht einzusehen, weshalb nicht auch der Zugang zu digitalen Medien mit ihrem nachweislich starken Suchtpotenzial ebenso restriktiven Altersbeschränkungen unterliegen sollte wie der Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Die Grosszügigkeit und Allgegenwart, mit der digitale Medien fast jederzeit und überall angeboten, ja geradezu angepriesen und als scheinbar unentbehrlicher Bestandteil des Alltagslebens als selbstverständlich angesehen werden, steht in einem unbegreiflichen Gegensatz zu fast allen anderen täglichen Betätigungsfeldern und Alltagsgewohnheiten. Kein Mensch käme auf die Idee, in seinem Haus oder seiner Wohnung auf jedem Möbelstück eine kleine Schale mit Gummibärchen, Smarties und Sauernudeln aufzustellen, um den Kindern jederzeit und überall den Konsum dieser Süssigkeiten zu ermöglichen – wo es aber um den Fernseher, das Tablet, den Computer oder das Smartphone geht, tun wir genau dies.

Die gesellschaftliche Debatte müsste aber noch weit darüber hinausgehen. Besteht durch die Omnipräsenz der digitalen Welt nicht auch die Gefahr einer tiefgreifenden Entwurzelung der Menschen schon von klein auf von der realen, sinnlichen, greif- und fühlbaren Welt, von der Natur, den Tieren und Pflanzen, von der Erde, dem Wetter, dem Erleben der unterschiedlichen Jahreszeiten? Jede Minute mehr, die an einem Bildschirm verbracht wird, jede Minute mehr, in der mit der Maustaste ein künstlicher Hund gefüttert wird, ist eine Minute weniger, die mit gemeinsamem Spielen, Zusammensein mit Freunden, im Garten oder im Wald verbracht oder in der einem echten Hund Nahrung gegeben wird. Zeiten, die für alles Mögliche und Erdenkliche zur Verfügung stünden, werden, wie in ein schwarzes Loch, in immer grösserem Ausmass von den digitalen Medien aufgesogen und weggefressen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei den Erwachsenen. Kein Wunder, bleibt am Ende dann kaum noch Zeit für echte zwischenmenschliche Begegnungen, für Vereinsarbeit sowie für ehrenamtliches und politisches Engagement – lauter gesellschaftlich wichtige und für das Funktionieren einer Demokratie geradezu unverzichtbare Tätigkeiten, wo es zunehmend schwieriger wird, genügend Nachwuchs zu finden.

Viele Menschen empfinden die digitale Welt als willkommenen Ausgleich zu den Belastungen, dem Zeitdruck und dem Stress in der Arbeitswelt und der Schule. Zweckfrei und ziellos surfen, in die Welt hinaus träumen, in Phantasiewelten eintauchen, sich spannende Filme „hineinziehen“, Musik hören, Veranstaltungsangebote in der näheren und weiteren Umgebung abchecken, Hotelpreise vergleichen, Ferienziele durchforsten, in den sozialen Medien möglichst viele neue Leute mit ihren Vorlieben und Lieblingsbeschäftigungen „kennenlernen“, Ferienfotos und Ferienfilme in alle Welt hinausschicken, nach den Ferien die auf 300 oder 400 neue Nachrichten angewachsene Mailbox abarbeiten – es gibt in den unendlichen Weiten künstlicher Welten immer noch irgendetwas zu erledigen oder zu tun, auch wenn es noch so unnötig ist und einen noch so geringen Nutzen erbringt. Doch lenken solche „Fluchtversuche“ aus der realen Welt nicht von der viel wichtigeren und grösseren Herausforderung ab, diese reale Welt eben in einer Art und Weise umzugestalten, dass alle diese Ablenkungen und Kompensationen eines Tages überflüssig geworden wären und man die digitalen Werkzeuge tatsächlich nur noch für jene Zwecke brauchen würde, die sich auf anderen Wegen nicht bewerkstelligen lassen? Ebenso wie auch Alkohol- und Nikotinkonsum, Spielsucht oder übertriebenes, bis zum Exzess betriebenes sportliches Training bei jenen Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit viel Freude, Wertschätzung und Befriedigung erfahren, weitaus seltener anzutreffen sind.

Damit sind wir freilich mitten in der Kapitalismuskritik. Denn ein auf endloses Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem ist zwangsläufig darauf angewiesen, laufend neue Bedürfnisse zu schaffen und – mithilfe immer aggressiverer Werbemethoden – die Menschen dazu anzutreiben, in wachsendem Ausmass Dinge zu kaufen und sich anzueignen, die sie für ein gutes Leben gar nicht wirklich brauchen. Als ich zehn Jahre alt war, gab es einen einzigen Fernsehsender, das schweizerische Staatsfernsehen. Tagsüber gab es kein Programm, die Sendungen begannen jeweils um 18 Uhr und zwischen 22 und 23 Uhr war Schluss. Dienstag war jeweils fernsehfrei, der Bildschirm blieb schwarz. Heute habe ich die Wahl zwischen etwa 300 verschiedenen Sendern, und dies pausenlos, Tag und Nacht, zudem kann ich mir Sendungen auch zeitversetzt noch bis zu drei Tagen später anschauen. Und doch habe ich nicht das Gefühl, in diesen 64 Jahren deswegen tausend Mal glücklicher geworden zu sein…

2,44 Billionen Dollar für Waffen: Pazifismus als einzige vernünftige Alternative

Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendein Staat bekanntgibt, mehr Geld für sein Militär ausgeben zu wollen. Gemäss dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri erreichten die globalen Militärausgaben 2023 einen neuen Höchststand. Sie stiegen gegenüber dem Vorjahr um 6,8 Prozent auf rund 2440 Milliarden Dollar – es war bereits das neunte Jahr in Folge, in dem die Länder der Erde mehr Geld für ihre Verteidigung ausgaben. Spitzenreiter sind dabei die USA, sie bestritten mit 916 Milliarden Dollar 37 Prozent sämtlicher weltweiter Militärausgaben.

Gleichzeitig sind immer mehr Menschen nicht nur in den Ländern des Südens, sondern auch in den Ländern des Nordens von Armut betroffen. All das Geld, das weltweit in militärische Aufrüstung gesteckt wird, fehlt bei der Grundversorgung von Millionen von Menschen umso schmerzlicher, bei der Bereitstellung günstigen Wohnraums, bei der Wasserversorgung, bei Sozialprogrammen, im Gesundheitswesen, in der Bildung, in der Entwicklungshilfe. Jeden Tag sterben weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. „Jede Kanone, die gebaut wird“, so der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower, „jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.“ Auch Albert Einstein schrieb schon vor über 70 Jahren: „Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir alle die Kräfte, die den Krieg entfesseln, für den Aufbau einsetzen würden. Ein Zehntel der Energien, ein Bruchteil des Geldes wären hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.“

Die Lösung wäre so einfach: Es bräuchte nur eine internationale Friedenskonferenz sämtlicher Regierungen, die bald einmal, wenn sie sich ernsthaft mit der Frage nach dem Überleben der Menschheit auseinandersetzen würden, unweigerlich erkennen müssten, dass sie alle nur gewinnen und dass niemand von ihnen etwas verlieren würde, wenn sie all das viel zu viele Geld, das heute für militärische Zwecke verschleudert wird, für zivile Zwecke verwenden würden. Die Einzigen, die dabei verlieren würden, wären die Rüstungskonzerne. Aber auch sie nur auf den ersten Blick. Denn es gibt unendlich viel Sinnvolleres, was man anstelle von Waffen produzieren kann: Wohnungen und Häuser, Anlagen für eine flächendeckende Versorgung mit sauberem Trinkwasser, ausreichende sanitäre Einrichtungen zur Verhinderung von ansteckenden Krankheiten, Spitäler, Geräte für medizinische Grundversorgung, intelligente und energiesparsame Verkehrssysteme, Fahrräder, Schulen, Kulturzentren, Bücher und vieles, vieles mehr. Und das würde all jene, welche ihre Produktion von militärischen auf zivile Güter umstellen würden, erst noch viel glücklicher machen, sie von schlechtem Gewissen und von schlaflosen Nächten befreien. Ja, der Pazifismus, der in der Abschaffung sämtlicher Armeen gipfeln und auf diese Weise endlich Wirklichkeit würde, ist die aktuellste Philosophie der Gegenwart und „aus der Zeit gefallen“ sind einzig und allein nur jene, die das immer noch nicht begriffen haben.

Aber noch etwas müsste an dieser globalen Friedenskonferenz beschlossen werden, nämlich, der UNO eine unvergleichlich viel grössere Macht zu geben als die, über welche sie heute verfügt. Die USA müssen ihre Rolle als Weltpolizist und als Weltmacht Nummer eins, die sich einzig und allein auf das Recht des Stärkeren begründet und an die sie sich je länger je verzweifelter und mit immer gefährlicheren möglichen Folgen festklammern, endlich abgeben. Nicht an China oder irgendeine andere künftige Grossmacht, sondern an eine supranationale Organisation wie die UNO, demokratisch legitimiert und ohne ein Vetorecht irgendeines einzelnen oder einer Gruppe privilegierter Staaten. Jeder Konflikt zwischen zwei Jugendlichen, die sich auf einem Pausenplatz verprügeln, jeder Konflikt zwischen Eheleuten, die nicht mehr miteinander sprechen, und jeder Streit zwischen Nachbarn wegen bellenden Hunden in der Nacht oder Bäumen, die in die falsche Richtung wachsen, wird heute durch den Beizug von Mediatoren oder Friedensvermittlerinnen und durch gemeinsames Suchen nach Kompromissen gelöst. Nur bei den grössten, schwierigsten und gefährlichsten Konflikten, jenen zwischen Völkern oder Staaten, geht man immer noch von der irrigen Annahme aus, diese könnten von den Kontrahenten alleine und ohne Hilfe von aussen gelöst werden. Dass dies definitiv nicht funktionieren kann, müsste die Menschheit aus der viele hundert Jahre währenden Geschichte von Kriegen, bei denen es am Ende nie Gewinner, sondern immer nur Verlierer gegeben hat, eigentlich schon längst gelernt haben.

Vielleicht, und das ist trotz allem die Hoffnung, sind wir dem Punkt einer Entscheidung, die wir nicht mehr viel länger hinausschieben können, heute näher denn je. Denn es gibt nur zwei Wege. „Entweder“, so der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, „werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben, oder aber als Narren miteinander untergehen.“

„Arena“ vom 19. April 2024 am Schweizer Fernsehen zum Thema Klimapolitik: Viel tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen…

Eigentlich hatte ich, als ich am Freitagabend nach dem Zürcher Klimastreik wieder zuhause angekommen war, zunächst absolut keine Lust, mir die am gleichen Abend ausgestrahlte SRF-Diskussionssendung „Arena“ zum Thema Klimapolitik anzuschauen. Wahrscheinlich wäre ich sowieso nur einmal mehr zutiefst enttäuscht gewesen und hätte kaum etwas von dem wiedergefunden, was ich während dieser zwei Stunden im Regen und in der Kälte von Zürich erlebt hatte, nichts von dieser überschäumenden Lebensfreude tausender ausschliesslich friedlich und fröhlich für eine lebenswerte Zukunft demonstrierender, vorwiegend junger Menschen, nichts von all dieser wunderbaren Energie und nichts von dem Optimismus, den dies alles in mir ausgelöst hatte. Dennoch habe ich dann zwei Tage später noch kurz in die „Arena“-Sendung hineingeschaut. Und ja, schon zwei kurze Ausschnitte haben genügt, um meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu finden…

Im ersten Ausschnitt stellt der Diskussionsleiter Sandro Brotz fest, dass die Klimabewegung in jüngster Vergangenheit wieder „in die öffentliche Wahrnehmung zurückgekehrt“ sei. Dies sei bei „verschiedenen Aktionen“ der vergangenen Wochen deutlich geworden. So etwa beim Zürcher Sechseläuten, wo sich eine Handvoll von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten mit einer schwarzen Flüssigkeit übergossen hätten – die entsprechenden Bilder werden eingeblendet -, wobei diese Aktion „gar nicht gut angekommen“ sei. Bei dieser Aktion hätte auch Max Vögtli mitgemacht, der später wegen einer Flugreise nach Mexiko in die Schlagzeilen geraten sei. Auch in Basel hätte eine ähnliche Aktion stattgefunden, bei der sogar ein 13Jähriger beteiligt gewesen sei: Im Bild sieht man drei Personen, welche eine schwarze Flüssigkeit über Tramgeleise giessen und sich dann mit einem Transparent auf den Boden setzen, einer von ihnen ist der Dreizehnjährige. Weiter geht es zu den Bildern von zwei Brunnen in der Berner Altstadt, deren Wasser grün eingefärbt worden sei. Und auch heute, am 19. April, so Brotz, seien „weitere Aktionen geplant“. Und ja – Brotz wendet sich nun, anknüpfend an diese Bilder, an den Juso-Präsidenten Nicola Siegrist und wirft ihm die provokative Frage entgegen, ob das nun immer so weiter gehe mit diesen „Strassenblockaden, die uns alle so nerven.“

Man findet kaum Worte, um eine dermassen tendenziöse „Informationsvermittlung“ zu beschreiben. In den drei gezeigten Episoden waren insgesamt nicht einmal zehn sogenannte „Klimaaktivistinnen“ und „Klimaaktivisten“ zu sehen. Während gleichzeitig allein in Zürich rund 4000 Menschen ausnahmslos friedlich, gewaltlos und ohne nur einen Ansatz von Provokation auf die Strasse gegangen sind, um daran zu erinnern, wie weit wir derzeit noch von der Umsetzung der Pariser Klimaziele, mit denen alle Länder der Welt einmal einverstanden gewesen waren, immer noch entfernt sind. Ein Thema, das aktueller nicht sein könnte, das uns eigentlich mit einem gewaltigen Ruck quer durchs ganze Land aufrütteln müsste, wird in der „Arena“ reduziert auf ein paar sensationslüsterne Bilder, die aber aus den Köpfen all jener, welche an keiner dieser friedlichen Demonstrationen dabei waren und nichts von der Leidenschaft, den Hoffnungen und Visionen abertausender junger Menschen mitbekommen haben, kaum jemals mehr auszulöschen sein werden.

Im zweiten Ausschnitt bringt Juso-Präsident Nicola Siegrist in einem kurzen Moment alles auf den entscheidenden Punkt: Das Gründübel sei das auf reine Profitmaximierung und immerwährendes Wachstum ausgerichtete kapitalistische Wirtschaftssystem. Solange dies nicht durch eine nachhaltige, nicht mehr länger auf der Ausbeutung von Mensch und Natur beruhende Wirtschaftsweise ersetzt würde, wäre auch eine Lösung des Klimaproblems nicht machbar. Doch statt jetzt in die alles entscheidende Grundsatzdiskussion einzusteigen, scheinen die beiden Kontrahenten auf der anderen Seite des Podiums, Christian Wasserfallen von der FDP und Christian Imark von der SVP, nur darauf gewartet zu haben, ihrem politischen Gegner die alles entscheidende Niederlage beizufügen. Wie Hyänen lauern sie auf ihre Beute, statt mit ernsthaftem Bemühen um eine möglichst sachbezogene Diskussion reagieren sie mit hämischem Grinsen. Wasserfallen beginnt schon zu reden, bevor Siegrist seinen Gedankengang überhaupt zum Ende bringen konnte. Jetzt, meint er, hätte sich Siegrist definitiv selber verraten, es sei doch immer wieder das gleiche „Narrativ“, es gäbe doch kein einziges sozialistisch-kommunistisches Land, das „klimamässig sauber unterwegs“ sei, die seien doch alle von Armut geprägt, hätten keinerlei Infrastruktur und keinerlei Innovationen, die dazu führen könnten, Klimaschutzmassnahmen überhaupt technisch umzusetzen. Dann wirft er Siegrist vor, dieser wolle doch bloss den Firmen alle Gewinne wegnehmen, Löhne fordern, die gar niemand bezahlen könne, und damit auch keine Mittel mehr übrig zu lassen, um das Klimaproblem zu lösen. „Herr Siegrist“, sagt er, „haben Sie sich das alles schon einmal überlegt? Wahrscheinlich nicht.“ Und dann rät Wasserfallen ihm, endlich von den „marxistisch-roten Büchern“ wegzukommen und in die „betriebswirtschaftliche Realität“ zu gelangen. Und überhaupt, so fährt er nahtlos weiter, sähe man es ja an diesem Max Vögtli, wohin das alles führe, wenn einer solche Aktionen durchführe und dann am nächsten Tag mit dem Flugzeug nach Mexiko verreise.

Eigentlich wäre das jetzt der Moment für den Moderator. Eigentlich müsste der jetzt sagen, dass man so nicht konstruktiv diskutieren könne und nicht alles durcheinanderbringen dürfte, sondern jeweils beim entsprechenden Thema bleiben müsste. Und er müsste zumindest die Frage aufwerfen, ob es denn ausserhalb des profitsüchtigen Kapitalismus und eines zweifellos mit viel zu vielen Mängeln behafteten „sozialistisch-kommunistischen“ Systems nicht möglicherweise noch etwas Drittes geben könnte, das vielleicht noch gar nicht existiert, worüber aber ernsthaft zu diskutieren von grösster Dringlichkeit wäre. Er müsste auch nachweislich falsche Aussagen richtig stellen und zum Beispiel daran erinnern, dass die DDR kurz vor ihrem Zusammenbruch immerhin die sechststärkste Wirtschaftsnation der Welt gewesen war. Doch nichts von alledem geschieht. All die Anschuldigungen, die falschen Behauptungen, die immer wieder neu aufgewärmten Feindbilder bleiben unwidersprochen im Raum hängen. An keiner Stelle findet eine seriöse, vertiefte Auseinandersetzung statt. Ein knallhartes 1:0 für alle, die es immer schon wussten: Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten sind vor allem Menschen, die sich auf Strassen kleben, sich mit schwarzen Flüssigkeiten übergiessen und Flüsse und Brunnen vergiften. Wirtschaftswachstum ist gut. Zum Kapitalismus gibt es keine glaubwürdige Alternative. Deckel darüber. Tiefer kann Diskussionskultur nicht mehr fallen.

Es ist immer wieder die gleiche Methode, mit der man sich einer demokratischen, diskursiven Auseinandersetzung entzieht, indem man den politischen Kontrahenten mundtot zu machen versucht: Wer nur schon die leiseste Vermutung äussert, auch der Westen trage infolge der NATO-Osterweiterung eine Mitschuld am Ukrainekonflikt, ist ein „Putinfreund“. Wer auch nur ansatzweise die derzeitige Politik Israels und den Völkermord an den Menschen im Gazastreifen zu kritisieren wagt, ist ein „Antisemit“. Und wer nur schon den geringsten Zweifel darüber äussert, ob die kapitalistische Ideologie unbeschränkter Profitmaximierung und eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums eine Zukunft haben kann, wird zum „Kommunisten“ abgestempelt. Damit aber ist jegliche auch nur ansatzweise demokratische Auseinandersetzung bereits im Keim erstickt.

Meine Eindrücke vom Klimastreik in Zürich, die Begegnungen mit so vielen wunderbaren Menschen voller Idealismus und voller Leidenschaften. Und dann die „Arena“. Zwei Dinge, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Wäre nicht endlich die Zeit reif dafür, sich nicht mehr länger verheizen zu lassen, nicht mehr länger solche Spiele mitzuspielen, sich nicht mehr länger in den Fleischwolf jener werfen zu lassen, die aus dem lautstarken Schlagabtausch oberflächlicher scheinbarer „Wahrheiten“ immer wieder als „Sieger“ hervorgehen und dabei einer ernsthaften, zukunftsgerichteten Auseinandersetzung schon zum Vornherein jeglichen Boden unter den Füssen entziehen? Es gäbe, so der chinesische Künstler, Dissident und Systemkritiker Ai Weiwei in einem kürzlich mit Sky News geführten Interview, auffallende Ähnlichkeiten zwischen der politischen Zensur in den aktuellen westlichen Gesellschaften und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit während der Herrschaft Mao Zedongs. Diese „Arena“ war einmal mehr ein zutiefst erschreckendes Beispiel dafür.

(Ich habe auch bis heute nicht verstanden, was dieses Konzept der „schweigenden Masse im Hintergrund“ bei den Arena-Sendungen eigentlich soll. Während sich im Vordergrund seit eh und je immer wieder die gleichen Politköpfe, deren immergleiche Worthülsen man längst schon bis zum Überdruss kennt, gegenseitig „duellieren“, sitzen da rund hundert meist junge Menschen, die wohl unzählige Fragen hätten und mit neuartigen, unkonventionellen Ideen das sich stets nach den gleichen Regeln abrollende Ritual aufwirbeln und aufbrechen könnten. Aber nein, sie sind zum Schweigen verdammt, gleichsam die anonyme Masse der nicht wahrgenommenen Bevölkerung symbolisierend, reine Statistinnen und Statisten, reine Dekoration, um dem Ganzen einen einigermassen demokratischen Anstrich zu geben, tatsächlich aber etwas zutiefst Antidemokratisches und das pure Gegenteil dessen, was man als partizipativ bezeichnen könnte, signalisierend, dass sie alle gefälligst zu schweigen haben, weil die da vorne, die wirklich „Wichtigen“, so viel Gescheites zum Besten geben, was man auf keinen Fall stören oder gar in Frage stellen darf. Jeden Freitag eine schallende Ohrfeige für all jene, die seit Jahren dafür kämpfen, dass die Jugend über viel mehr politische Mitsprache verfügen müsste. Gerade bei einem Thema wie Klimapolitik, von dem ja die heute noch unter 30Jährigen in ihrem zukünftigen Leben weit mehr betroffen sein werden als alle älteren Jahrgänge.)

Generation Z – eine „Gefahr für den Schweizer Wohlstand“? Die seltsamen Ansichten des „Generationenforschers“ Rüdiger Maas…

„Junge gefährden den Schweizer Wohlstand“, lese ich auf der Titelseite des „St. Galler Tagblatts“ vom 17. April. Es folgt auf Seite 3 ein ganzseitiges Interview mit dem „Generationenforscher“ Rüdiger Maas. Dieser nennt die Generation Z – die heutigen 15- bis 30Jährigen – „arbeitsunfähig“. Maas beklagt sich darüber, dass die Arbeit für diese Altersgruppe nicht mehr der „Mittelpunkt des Lebens“ sei, dass sie bei Vorstellungsgesprächen „kein bisschen nervös“ seien, dass sie ein „angenehmes Arbeitsumfeld“ einem „starken Leistungsdruck“ vorziehen, dass ihre Eltern nicht mehr „Erziehungspersonen“ seien, sondern die „besten Freunde ihrer Kinder“, dass Eltern und Kinder heute „die selben Werte teilen“ und dass die Unternehmen heute viel zu grosszügig seien, den stellensuchenden Jugendlichen, um sie anzuwerben, „viel zu viele Geschenke machen“ und ihnen sogar „Viertagewochen, Obstkörbe, Tablets und Bildschirme fürs Homeoffice“ zur Verfügung stellen. Maas beklagt sich auch darüber, dass heute zunehmend verhindert werde, den Kindern auch das „Verlieren“ beizubringen.

Offensichtlich trauert Maas den „guten“ alten Zeiten nach, in denen sich Jugendliche gefälligst den drakonischen Erziehungsmassnahmen, Strafen, der Bevormundung und der Rechthaberei und Besserwisserei seitens der Erwachsenen zu unterwerfen hatten und man ihnen bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass sie, bei Unstimmigkeiten zwischen ihnen und ihren Vorgesetzten, gefälligst den Mund zu halten hätten. Dabei müsste ein „Generationenforscher“ doch eigentlich wissen, dass sich jede neue Generation von allen vorangegangenen unterscheidet. Nur so ist eine gesellschaftliche Weiterentwicklung möglich, nur so kann die Welt immer wieder neu und anders gesehen und gedacht werden. Wenn die Jungen heute nicht mehr ihr ganzes Leben in den Dienst der Arbeit stellen, sondern vermehrt ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Lebensgenuss anstreben, so ist das etwas vom Besten, was sie tun können. Denn wer ausgeruht, entspannt, mit Freude und im inneren Gleichgewicht mit sich selber arbeitet, leistet insgesamt mehr, als wenn er wie eine Zitrone bis zum Letzten ausgepresst wird und mit der Zeit nur noch lustlos und widerwillig zur Arbeit geht. Entgegen der Schlagzeile, wonach die Jugend den Wohlstand gefährde, ist es genau umgekehrt: Mit ihrer Lebensfreude, ihrem Humor und ihrer Gelassenheit sichern diese jungen Menschen für uns alle und für unsere Zukunft eine neue, bessere Form von Wohlstand, die weit über blosse Pünktlichkeit, vorschriftsgemässes Einhalten von Regeln und Vorschriften und Verausgabung bis zur Erschöpfung hinausgeht.

Blockierte Zahlungen an das palästinensische Flüchtlingshilfswerk UNRWA

An FDP Schweiz, Neuengasse 20, 3001 Bern
An Generalsekretariat SVP, Postfach, 3001 Bern
An die Partei der Mitte, Seilerstrasse 8a, Postfach, 3001 Bern

Wie die „Rundschau“ auf SRF1 am 18. April 2024 berichtet hat, verweigern die SVP, die FDP und die MITTE die Zahlung von 20 Millionen Franken an das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA. Dies allein aufgrund der – bisher noch nicht bewiesenen – Behauptung Israels, am Angriff der Hamas auf israelisches Grenzgebiet vom 7. Oktober 2023 seien zwölf von insgesamt rund 30’000 Mitarbeitenden der UNRWA beteiligt gewesen.

WOLLEN SICH DIE FDP, DIE SVP UND DIE MITTE ALLEN ERNSTES DER BEIHILFE ZUM VÖLKERMORD SCHULDIG MACHEN?

Anja Bezold, Hebamme, berichtet im „Tagesanzeiger“ vom 18. April 2024: „Ich arbeitete in Rafah, wo die letzte Geburtsklinik in ganz Gaza betrieben wird. Sehr viele Kinder kommen zu früh zur Welt, weil die Mütter so gestresst und traumatisiert sind. Das Team muss 100 Geburten pro Tag stemmen und ist völlig überfordert. Es fehlt an Medikamenten und Materialien. Es gibt keine Windeln, es fehlt an Nabelklemmern. Es hat kaum künstliche Babynahrung. Es fehlt an sauberem Wasser. Die Mütter können ihre Babys nicht stillen, sie sind selber total ausgelaugt.“

Ebenfalls im „Tagesanzeiger“ vom 18. Oktober 2024 berichtet der UNRWA-Nothilfekoordinator Sam Rose: „Was ich hier in Rafah sehe, übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Zehntausende Menschen sitzen in Zelten und Notunterkünften und kämpfen ums tägliche Überleben. Und Israel verwehrt uns den Zugang in den Norden, wo die Bevölkerung noch härter als im Süden von Hungersnot betroffen ist. Unsere Angestellten werden wegen der täglichen Bombenangriffe ständig vertrieben. Das Geld reicht höchstens noch bis Ende Mai, dann müssen wir unsere Arbeit hier einstellen.“

Und Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf, schreibt im Tagesanzeiger-Newsletter vom 17. April 2024: „Das UNRWA ist auf die Mittel angewiesen, um weiterhin der Zivilbevölkerung in Gaza die dringendst benötigte Nothilfe leisten zu können. Die UNRWA ist die einzige Organisation, die logistisch in der Lage ist, die Verteilung der Nahrungsmittel und der Hilfsgüter zu bewältigen. Zwölf UNRWA-Mitarbeitende (von 30’000) werden verdächtigt, an den Angriffen der Hamas beteiligt gewesen zu sein. Rechtfertig dies, die Unterstützung von zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinensern einzustellen, welche dringend Hilfe benötigen, um zu überleben? Hätte Henri Dunant die Verwundeten von Solferino im Stich gelassen, wenn sich darunter zwölf Vergewaltiger befunden hätten?“

SETZEN SIE SICH DAFÜR EIN, DIE BLOCKIERTEN ZAHLUNGEN AN DIE UNRWA UNVERZÜGLICH FREIZUGEBEN! ALLES ANDERE IST VERSUCHTE BEIHILFE ZU VÖLKERMORD UND WÜRDE EINE NIE DAGEWESENE VERLETZUNG UND MISSACHTUNG DER HUMANITÄREN TRADITION UNSERES LANDES BEDEUTEN.

19. April 2024, Klimastreik in Zürich: Und mittendrin Olivia, 11 Jahre, an der ersten Klimademo ihres Lebens…

Wie viele werden wohl kommen? Olivia, 11 Jahre, kann es kaum erwarten. Es ist die erste Klimademo ihres Lebens. Mindestens vier, scherze ich, du, dein Papa, deine Mama und ich. Nein, lacht sie zurück, mindestens fünf, irgendwer muss das Ganze ja organisiert haben…

Doch glücklicherweise sind es dann nicht nur fünf, sondern etwa 4000, die sich an diesem 19. April 2024 trotz strömendem Regen und Kälte auf dem Helvetiaplatz in Zürich versammeln. Musik dröhnt aus einem Lautsprecherwagen mit vorgespanntem Traktor, da und dort werden Flugblätter verteilt und Transparente aufgerollt. Fünf vor sechs Uhr, wieder ist ein Tram voller Neuankömmlinge eingetroffen, von allen Seiten strömen sie jetzt auf den Platz, junge und ältere Menschen, Frauen und Männer, Omas und Opas, Kinder und Jugendliche. Olivia kommt mit Zählen nicht mehr nach.

Und dann, wie ein Theaterstück, das man perfekter nicht inszenieren könnte. Nur schon diese sich im Schritttempo vorwärts bewegende Menge, wie ein Fluss wälzt sie sich durch die Strassen, ein Bild des totalen Friedens, niemanden rempelt irgendwen an, alle sind fröhlich und lachen sich gegenseitig zu, geniessen es einfach, mit so vielen anderen Menschen zusammen zu sein, durch eine gemeinsame Idee, eine gemeinsame Vision, eine gemeinsame Leidenschaft miteinander verbunden. Wie ein den ganzen Körper durchdringender Herzschlag: Hier eine Parole und, kaum ist sie verklungen, dort eine andere, immer wieder neue Bewegung entfachend, tanzende, auf und ab wippende, nicht mehr zu Ruhe kommende Körper. Sprecherinnen mit Megafonen, bis ihnen die Stimme ausgeht. Dann wieder die vom Traktor gezogene Tanzbühne, dumpfe Bässe, die alles zum Vibrieren bringen, ein Stück Streetparade mitten in der Klimademo. Eine Gruppe von Trommlerinnen und Trommlern, die alle Kraft, die in ihren Körpern steckt, auf ihre Instrumente hauen, Rundumstehende, die begeistert mitklatschen, immer schneller, immer lauter. Und immer wieder Windstösse, der von allen Seiten heranstürmende Regen, flatternde Schirme, eine Kartonschachtel auf dem Kopf eines jüngeren Mannes, um sich gegen die Nässe zu schützen. Gleichzeitig wird es immer dunkler, die Gebäude am Strassenrand versinken nach und nach im Unsichtbaren, während auf der Tanzbühne jetzt Lichter in allen Farben zucken. Und mittendrin Olivia, 11 Jahre jung, elektrisiert, überwältigt von all den Eindrücken, dieser Lebensfreude, diesen lachenden Gesichtern, den vielen Fahnen und und ganz besonders jener von ihnen, die ihr Papa gebastelt hat und die nun auch sie, Olivia, eine Zeitlang tragen darf, bis sie ihr zu schwer wird. Dieser Tag wird wohl für immer in der Erinnerung ihres Lebens einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen…

Ja, diese gemeinsame, so logische und einfache und doch auf nahezu unbegreifliche Weise in immer noch in so weiter Ferne liegende Vision eines guten Lebens nicht nur für heute, sondern auch für morgen und übermorgen, und nicht nur für einzelne mit besonderem Glück und besonderen Privilegien beschenkte Orte, sondern für alle Menschen über alle Grenzen hinweg. Auf dem Traktor, welcher den grossen Musikwagen zieht, klebt ein Schild mit der Aufschrift „Free Palestine!“ und erinnert daran, dass es schon längst nicht mehr bloss um die Reduktion von Treibhausgasemissionen oder die Umstellung von fossiler auf erneuerbare Energieproduktion geht, sondern um etwas viel Grösseres und Umfassenderes. Es geht um weltweiten Frieden und Gerechtigkeit nicht nur zwischen Mensch und Natur, nicht nur zwischen Gegenwart und Zukunft. Es geht auch um die Überwindung sämtlicher Formen von Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen. Es geht um die Überwindung jeglicher Machtverhältnisse, dank denen sich Einzelne auf Kosten anderer bereichern. Es geht um die Überwindung von Krieg und jeglicher Anwendung von Gewalt in Konflikten zwischen Menschen, Völkern oder Ländern. Es geht um die Überwindung eines globalen Wirtschaftssystems, welches nicht auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse einer sich stetig vermehrenden Menge von Geld und Macht in den Händen einer Minderheit auf Kosten der grossen Mehrheit der Menschen – das, was in der kürzest möglichen Form auch bei dieser Kundgebung mit der Parole SYSTEM CHANGE, NOT CLIMATE CHANGE immer und immer wieder skandiert und auf den Punkt gebracht wird. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte lassen sich nicht voneinander trennen oder gar gegeneinander ausspielen. Es gibt nur entweder Frieden in und mit allem oder aber Krieg in unendlich vielen mehr oder weniger gewalttätigen und zerstörerischen Formen. Es gibt nur entweder das blinde Festhalten an der Vergangenheit oder aber den radikalen, mutigen Schritt in eine von Grund auf neue und andere Zukunft. Heute noch werden Klimastreiks, Friedenskundgebungen für Palästina oder die Ukraine, Feiern zum Ersten Mai, Frauenstreiks und Kundgebungen gegen Rassismus völlig unabhängig voneinander organisiert und durchgeführt, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Tatsächlich aber hängt alles mit allem zusammen. Würde man alle diese voneinander getrennten Bewegungen in eine einzige, gemeinsame Bewegung für Frieden und Gerechtigkeit zusammenführen, und dies weltweit – kaum auszudenken, welche Auswirkungen dies haben würde…

Schon auf der Fahrt im Zug nach Zürich wollte Olivia unbedingt wissen, ob es überhaupt noch gelingen könne, den Klimawandel aufzuhalten. Als wir Erwachsene hin und her zu diskutieren begannen, ob es dafür nicht vielleicht schon zu spät sein könnte, liess sie dennoch nicht locker und wollte es nicht für möglich halten, dass wir es gemeinsam nicht schaffen würden. Und ja, hat sie nicht recht? Gibt es in dieser so dunklen Zeit voller Ängste und Zweifel nicht auch immer häufigere Anzeichen von Widerstand, Hoffnung und Rebellion, ein immer stärker wachsendes Bewusstsein dafür, dass Geschichte nicht einfach etwas ist, was schicksalshaft über uns Menschen hereinbricht, sondern etwas, was wir Menschen mit unseren eigenen Händen, unserer eigenen Kraft, unserem eigenen Handeln, unseren eigenen Visionen, unseren eigenen Begabungen und Leidenschaften und unserer eigenen Liebesfähigkeit verändern und gestalten können? Könnte es sein, dass wir dem „Kipppunkt“, an dem die alte in die neue Zeit umschlagen wird, schon viel näher sind, als wir uns dessen bewusst sind? Ist nicht allein schon die Tatsache, dass von uns vieren im Zug nach Zürich die elfjährige Olivia die meiste Zeit geredet hat und wir Erwachsene während der meisten Zeit ihr zugehört haben, genau einer dieser unendlich vielen Meilensteine an allen Ecken und Enden auf dem Weg in eine neue Zeit?

Noch nie habe ich so wild und ausgelassen tanzende Menschen gesehen wie an diesem 19. April 2024 in Zürich. Vielleicht auch wegen des Regens und der Kälte. Vielleicht auch, um so den Widerstand in ganz urtümlicher, aus dem tiefsten Inneren schöpfenden, sprach-loser Weise kundzutun, sozusagen jene Energie anzapfend, die weltweit alle Menschen in ihrem Innersten miteinander verbindet. Und unwillkürlich muss ich an jene legendären Sonnentänze der amerikanischen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner denken, mit denen sie zum allerletzten Mal die Übermacht der aus Europa eingedrungenen weissen Kolonialherren zu brechen versuchten. Dass die Weissen ihnen militärisch überlegen waren, wussten sie schon lange und hatten jeglichen Widerstand aufgegeben. Kurz vor der letzten vernichtenden Auslöschung ihrer traditionellen Lebensweise beschlossen sie auf einer grossen stammesübergreifenden Versammlung, so lange zu tanzen, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen ihrer und der fremden Kultur hergestellt sein würde. Und so tanzten sie wochenlang, Tag und Nacht, bis zur Erschöpfung. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Aber vielleicht hat ja das, was heute in Zürich geschieht, damit etwas zu tun. Vielleicht ist es ganz einfach so, dass sich die Sehnsucht des Lebens nach sich selber schlicht und einfach nicht auslöschen lässt und sich immer und immer wieder aufbäumt, so lange es Menschen gibt. Bis dann, allem Widerstand zum Trotz, eines Tages das, was sich die Sonnentänzerinnen und Sonnentänzer im fernen Amerika damals erträumt hatten, dennoch Wirklichkeit wird.

Im Zug auf dem Heimweg ist Olivia dann schon nach wenigen Minuten in einen tiefen Schlaf gefallen. Kein Wunder, nach zwei Stunden im Regen und in der Kälte und so vielen Eindrücken an der allerersten Klimademo ihres noch so jungen Lebens. Wovon sie jetzt wohl träumt? Es liegt an dir und mir. Es liegt an der Oma, die mit letzter Kraft, auf ihren Rollator gestützt, in dem vieltausendköpfigen Zug mithumpelte. Es liegt an dem jungen bärtigen Mann, der zuerst ungläubig den so ausgelassen tanzenden Frauen zuschaute, bis er, auf einmal, selber zu tanzen begann. Es liegt aber auch an dem elegant und mit Krawatte gekleideten älteren Herrn, der verstohlen hinter dem Vorhang in einem der oberen Stockwerke eines angrenzenden Bankgebäudes hervorlugte und es sich nicht zu verkneifen vermochte, mit seinem Handy den Anblick dieser farbenfrohen, überschäumenden Menschenmenge festzuhalten. Es liegt aber auch an all denen, die an diesem Tag zuhause in der warmen Stube geblieben sind und von diesem Feuer, welches da so hoffnungsvoll entfacht worden war, immer noch nichts wissen wollten, das Kind in ihnen in meterdicke Watte eingehüllt, durch die, immer noch, auch nicht die lautesten Schreie verdursteter Kinder aus dem fernen Afrika hindurchzudringen vermögen, und auch nicht das Wehklagen Abermilliarden von Tieren und Pflanzen in sterbenden Wäldern, Seen, Flüssen und Meeren. Es liegt an dir und mir und uns allen, ob Olivias Traum von einer liebevollen, lebenswerten, lustigen, tanzenden und singenden Welt über alle Grenzen hinweg doch noch eines Tages Wirklichkeit wird oder nicht…

Baskenland-Radrundfahrt im April 2024: „Das Gefährlichste sind die Fahrer selbst“ – Wie das Konkurrenzprinzip unser Denken verdreht…

Wie das schweizerische „Tagblatt“ am 6. April 2024 berichtete, hat „eine Sturzserie von Top-Fahrern bei der Baskenland-Rundfahrt den Radsport erschüttert“. Am schlimmsten traf es den Dänen Jonas Vingegaard, der neben mehreren Knochenbrüchen auch eine Lungenquetschung erlitt und nach seinem fürchterlichen Sturz lange regungslos am Streckenrand liegen blieb. Der Belgier Remco Evenepoel brach sich das Schlüsselbein und zog sich eine Fraktur des Schulterblatts zu. Und der Australier Jay Vine zog sich einen Halswirbelbruch und zwei Brüche an der Brustwirbelsäule zu. Die Bilder lösten einen derartigen Schock aus, dass selbst Thierry Gouvenou, Renndirektor von Paris-Roubaix, öffentlich die Forderung erhob: „Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden. Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken.“

Hätte man nun eine Grundsatzdebatte über Sinn oder Unsinn solcher Sportanlässe erwartet, so wurde man sogleich eines Besseren belehrt. „Ich glaube“, so kommentierte der Niederländer Mathieu van der Poel die Vorfälle, „das gefährlichste Moment sind die Fahrer selbst. Denn alle wollen vorn am gleichen Platz sein, und das ist nicht möglich.“ Auch der Deutsche Simon Geschke meinte: „Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell. Es ist der Ehrgeiz der Profis, diese Wer-bremst-verliert-Mentalität. Jeder will in die ersten Zehn hinein. Und wenn dann keiner bremst, passiert eben so etwas. Viele Stürze sind allein die Schuld der Fahrer.“

Wie kann man simpelste Tatsachen dermassen ins Gegenteil verdrehen! Sind doch Sportanlässe dieser Art, bei denen es um nichts anderes geht als um Sieg oder Niederlage, von Natur aus auf nichts anderes ausgerichtet als darauf, dass sich die, welche daran teilnehmen, bis aufs Blut gegenseitig zerfleischen. Man stelle sich einmal vor, ein einzelner Fahrer würde tatsächlich kurz vor einer gefährlichen Situation künstlich bremsen oder sich nicht mit der grösstmöglichen Geschwindigkeit auf den allersteilsten Abfahrten in die allerengsten Kurven legen – die ganze Sportwelt, alle Mitkonkurrenten, die Fernsehkommentatoren, die Sponsoren und das gesamte Publikum würden doch wie Hyänen über solche „Weicheier“ herfallen…

Wie auch die Organisatoren mehrerer Skirennen, bei denen es im letzten Winter überdurchschnittlich viele schwere Stürze gab, von „Weicheiern“ sprachen, als einzelne Fahrerinnen die Entschärfung besonders gefährlicher Streckenabschnitte forderten. Diese Frauen, so meinte ein auffallend fettleibiger Verbandsfunktionär, den man sich beim besten Willen nicht mit über hundert Stundenkilometern die Pisten hinabrasend vorstellen kann, hätten offensichtlich den falschen Job gewählt. Ebenso wie jene Kunstturnerin wohl den falschen Job gewählt hat, die sich darüber beschwerte, dass ihr Trainer sie gezwungen hätte, trotz gebrochenem Knöchel weiterzuturnen, und ebenso wie auch jene Synchronschwimmerin ganz offensichtlich den falschen Job gewählt hat, die sich weigerte, noch länger unter Wasser zu bleiben, nachdem sie im letzten Training beinahe ohnmächtig geworden war.

Aber nein. Das Gefährliche sind nicht die glitschigen Pflastersteine, über welche die Radrennfahrer gehetzt werden. Auch nicht die immer gefährlicheren Sprünge, welche von Kunstturnerinnen gefordert werden, und auch nicht die immer anstrengenderen Figuren, welche Synchronschwimmerinnen bewältigen müssen. Auch nicht die immer engeren Kurven auf den Skipisten, in denen Becken, Kniegelenke und Wirbelsäule der Fahrerinnen und Fahrern immer höheren tonnenweisen Belastungen ausgesetzt sind. Nein, das Gefährliche sind die Sportlerinnen und Sportler selber. So wie das Gefährliche auch der LKW-Fahrer ist, der während 24 Stunden ohne Schlaf unterwegs war, einen schweren Unfall baute und dafür mit dem Entzug seines Fahrausweises bestraft wurde, während sein Arbeitgeber weiterhin alle anderen verbliebenen Fahrer mit viel zu engen Zeitlimiten und mit viel zu wenig Schlaf über die Strassen jagt, auf denen in immer horrenderem Tempo alle gegenseitig ums Überleben kämpfen. Schuld daran, dass sie ihre Stimme verloren haben und Konzerte absagen mussten, waren auch Shania Twain, Jan Delay, Tim Bendzko, Ed Sheeran, Sam Brown, Rita Ora, Phil Collins, Rod Stewart, Selena Gomez, Rihanna und Christina Aguilera ganz alleine – und nicht etwa ihre Manager und Produzenten, von welchen sie erbarmungslos an 300 Tagen oder mehr pro Jahr von Bühne zu Bühne gehetzt und während der verbliebenen Zeit zu unzähligen Werbe-, Interview- und Fototerminen verpflichtet werden. Und selbst all jene Schülerinnen, welche unlängst in erschreckend hoher Anzahl in einer Befragung aller Vierzehnjährigen im Kanton Zürich zu Protokoll gaben, unter Depressionen, Ängsten und Suizidgedanken zu leiden, sind offensichtlich ganz alleine selber Schuld – deshalb wurde ihnen vom Kantonalen Schulpsychologen ans Herz gelegt, mehr Sport zu treiben und sich mehr „Resilienz“ anzueignen, um weniger stark unter dem Leistungs-, Prüfungs- und Notendruck der Schule zu leiden.

Offensichtlich haben wir das durch alle Lebensbereiche hindurchwirkende Konkurrenzprinzip, welches darauf beruht, die Menschen in einen permanenten gegenseitigen Konkurrenzkampf zu zwingen, um ein Höchstmass an Leistung aus ihnen herauszupressen, bereits dermassen verinnerlicht, dass uns seine ganze Absurdität und Zerstörungskraft und die Tatsache, dass seine Opfer am Ende noch selber daran Schuld sein sollen, schon gar nicht mehr besonders auffällt. Vermutlich ist da selbst nicht einmal mehr jener Gedanke besonders fern, wonach auch der ukrainische oder der russische Soldat, der im von ferner Hand aufgezwungenen gegenseitigen Vernichtungskampf das Leben verliert oder eine schwere Verletzung mit oft lebenslänglichen Folgen erleidet, an seinem Schicksal selber Schuld ist, hätte er doch härter kämpfen, mehr Mut haben oder sich besser schützen können…

Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik bestand bis ins 19. Jahrhundert eine Lieblingsbeschäftigung von Plantagenbesitzern darin, ihre Sklaven in zwei gleich grosse Gruppen aufzuteilen. Die beiden Gruppen mussten dann innerhalb einer gewissen Zeit möglichst viel Zuckerrohr ernten. Die, welche eine grössere Menge geerntet hatten, bekamen zur Belohnung eine Tasse Tee. Die anderen wurden ausgepeitscht…

Das Konkurrenzprinzip ist bis heute die Peitsche in den Händen der Reichen und Mächtigen, das effizienteste Mittel, um die Menschen gegenseitig zu entsolidarisieren und sie in einen permanenten gegenseitigen Kampf ums Überleben zu zwingen, der – ob in der Arbeitswelt, dem Sport, dem Showbusiness, der Schule oder ganz allgemein der kapitalistischen Klassengesellschaft, in der die Armen der Ärmsten gezwungen sind, immer härter gegenseitig um einen immer kleiner werdenden Kuchen zu streiten – zwangsläufig immer zerstörerische Formen annehmen muss, wie ein Wettrennen, in dem die an der Spitze gezwungen sind, sich immer mehr und bis zur Erschöpfung anzustrengen, um nicht von den anderen eingeholt zu werden, und die, welche hinten sind, ebenfalls gezwungen sind, immer grössere Anstrengungen zu unternehmen, um nicht den Abschluss zu verlieren. Alle anderen werden ausgespuckt und bleiben mit gebrochenen Körpern, zerstörten Träumen und kaputten Seelen am Strassenrand liegen. Und natürlich sind auch sie alle selber Schuld, wer denn sonst…

„Schwere Stürze lösen Debatte aus“ – so der Titel des anfänglich zitierten Zeitungsartikels über die Sturzserie an der Baskenland-Rundfahrt vom April 2024. Die Debatte lässt auf sich warten…

Das Märchen von der sich wiederholenden Geschichte: Eine neue Zeit kommt, aber sie kommt nicht von selber

Immer wieder, und in der heutigen Zeit ganz besonders, geistert dieses Märchen durch die Lande, die Geschichte würde sich endlos stetig wiederholen. Dann kommen die Vergleiche mit 1933 oder mit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs. So als handle es sich um Gesetzmässigkeiten, denen wir machtlos ausgeliefert wären und die wie Naturkatastrophen regelmässig über uns hereinbrächen. Oder, wie mein Vater mich stets, wenn ich an ein mögliches Ende aller Kriege glaubte, belehrte: „Weisst du“, sagte er, „Kriege gab es schon immer und wird es deshalb auch immer wieder geben.“

Als sei alles sozusagen vorprogrammiert. Als sei die Geschichte mächtiger als wir Menschen. Als wären wir bloss das Opfer irgendwelcher höherer Mächte, die das alles schon lange so geplant hätten. Die Folge: Ein verheerender Fatalismus. Das Gefühl so vieler Menschen, etwas ganz Grossem, Schwerem und Schrecklichem hilflos ausgeliefert zu sein, nichts dagegen tun zu können. Als wäre jeglicher Widerstand ohnehin zwecklos. Nur so ist zu erklären, weshalb in diesen Tagen, da ganz unverhohlen und offen mehr denn je wieder die Rede ist von einem drohenden dritten Weltkrieg, nicht Millionen und Abermillionen von Menschen auf der Strasse sind und für Frieden demonstrieren, nicht an allen Häusern quer durch alle Länder Peace-Fahnen hängen und nicht jeden Tag Abertausende Friedensbriefe geschrieben werden an jene, die über Krieg oder Frieden entscheiden. Lieber flüchtet man sich in alle noch so absurden Freizeitvergnügungen, um sich von all dem Bedrohlichen abzulenken. „Ich würde das nicht aushalten“, sagte mir eine jüngere Frau, „ich muss abschalten und mir möglichst viele Momente schaffen, in denen ich das Leben geniessen kann.“ Aber wie soll man denn das Leben geniessen können, wenn man doch weiss, dass genau zur gleichen Zeit unzählige Kinder im Gazastreifen unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser um ihr Leben schreien, während ihre Eltern mit blossen Händen nach ihnen graben, und die Kinder immer weiterschreien, bis das Schreien irgendwann ganz leise wird und irgendwann auf einmal verstummt? Und wie soll man das Leben geniessen können, wenn doch ganz tief im Inneren diese Angst trotz aller Ablenkungen nicht auszulöschen ist, diese Angst, dass das, was für die Kinder im Gazastreifen heute „normal“ ist, auch für unsere eigenen Kinder und uns selber schon bald ebenso „normal“ sein könnte?

Wer kann ein Interesse an diesem Fatalismus, an dieser Schicksalsgläubigkeit, an diesen Ohnmachtsgefühlen, an all diesen Ablenkungen und Selbsttäuschungen haben? Doch nur jene, die aus dem Tod anderer einen Nutzen ziehen, nur jene, die eben kein Interesse daran haben, dass Kriege für immer ein Ende finden, so wie der US-Aussenminister Antony Blinken, der kürzlich in aller Öffentlichkeit sagen konnte, er hoffe, dass der Krieg in der Ukraine noch möglichst lange weitergehe, könnten dadurch doch zahlreiche Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie erhalten werden – eigentlich hätte er auch sagen können, dass hiermit dieser Rüstungsindustrie weiterhin lukrative und immer noch lukrativere Aufträge gesichert werden können, aber so weit wollte er dann offensichtlich auch wieder nicht gehen.

Interesse an diesem Fatalismus und an all diesen Ablenkungen können nur jene weltweit Reichsten und Mächtigsten haben, die nicht wollen, dass eine weltweite Revolution des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit ausbricht, weil dann nämlich all die Privilegien, die sie als Minderheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit friedliebender Menschen über alle Grenzen hinweg geniessen, fundamental bedroht wären. Und so setzen sie alles daran, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt, halten unerbittlich an ihrer Machtbesessenheit fest und sind dabei schon so blind geworden, dass sie nicht einmal mehr merken, dass, wenn die ganze Welt untergeht, auch sie selber untergehen.

Doch es ist nicht zu spät. Die Geschichte muss sich nicht zwangsläufig wiederholen. Sie darf sich nicht wiederholen. Jedes neu geborene Kind ist der lebendige Beweis dafür, dass eine der wertvollsten oder vielleicht sogar die wertvollste aller Gaben, über welche die Menschen verfügen, darin besteht, aus Fehlern lernen zu können. Ohne diese Gabe wäre es nicht möglich, dass sich ein Baby, das wie ein auf dem Rücken liegender Käfer hilflos am Boden zappelt, im Verlaufe von nicht einmal vier Jahren in ein Kind verwandelt, das sich mit traumtänzerischer Sicherheit durch die Welt bewegt, alle seine Sinne voll ausgebildet hat, schon eine unglaubliche Vielzahl an Geheimnissen seiner Umwelt durch eigenes Forschen entschlüsselt hat und auf vielfältigste und subtilste Weise mit seiner Umgebung kommunizieren kann, alles erlernt auf dem Weg von Versuch und Irrtum, Scheitern und Gelingen, Fehler machen und daraus lernen. Die Erwachsenen müssten es bloss gleich machen wie die Kinder, dieses frühe Wunderwerk auch im späteren Leben weiterführen: Aus gemachten Fehlern lernen, alles, was sich nicht bewährt hat, neu erfinden, Gewalt aufgrund viel zu vieler schlechter Erfahrungen in Gewaltlosigkeit verwandeln, Hass in Liebe, Krieg in Frieden. Und dies alles im festen Vertrauen, dass der Mensch im Grunde gut ist, so wie das der bekannte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 200 Jahren wusste: „Der Mensch ist gut und will das Gute. Und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Der Mensch kann und muss stärker sein als die Geschichte. Nicht die Geschichte muss ihn bestimmen, er muss die Geschichte bestimmen. Alle Märchen und Mythen, die im Laufe der Jahrhunderte über die kindliche Seele geschüttet wurden und immer noch geschüttet werden, müssen überwunden und beiseitegeschafft werden. Man muss dem Menschen nichts aufzwingen, ihn nicht belehren, man muss ihn nur befreien zu sich selber. Wir sind nicht klein und machtlos und scheinbar unveränderbaren äusseren Verhältnissen ausgeliefert. Wir sind gross und stark und fähig, diese Verhältnisse zu verändern und dafür zu sorgen, dass die Geschichte nicht einfach immer nur eine Wiederholung bereits begangener Fehler, Untaten, Versäumnisse und Verbrechen ist, sondern jeden Tag die Chance bietet zu einem radikal neuen Anfang.

Ich würde mich, im traditionellen Sinne, nicht als religiös bezeichnen. Aber ich bin dennoch davon überzeugt, dass dieses wunderbare Geschöpf Mensch einen tieferen Sinn haben muss. All die wunderbare Musik, die im Laufe von Jahrtausenden erschaffen wurde, Millionen trauriger und fröhlicher Lieder, Instrumente himmlischer Klänge quer über alle Kontinente, Tanzen, Singen und Spielen, die Freude und der Stolz auf schöne Kleidung, kunstvollste Frisuren, künstlerische Wunderwerke von Höhlenzeichnungen bis zu filigransten Bauten technischer Höchstleistungen, Gedichte, Romane, Theaterstücke, Filme voller immer wieder neuer, ungeahnter Kreativität, das Lachen, Witze, Humor, die erste Liebe, all die Empfindungen beim gegenseitigen Blick in die Tiefe unserer Augen, Sehnsüchte, Erinnerungen, Inspirationen, Träume, Phantasien, Visionen, die Gaben der Empathie, der Liebe von Eltern für ihre Kinder, die Fähigkeit sich gegenseitig aufmerksam zuzuhören, sich zu trösten, voneinander zu lernen, füreinander einzustehen, der Idealismus, die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Mitleiden, das Mitfühlen, immer weiter sich entwickelnde Künste und Kenntnisse zum Anbau von Nahrungsmitteln und zum Zubereiten von Speisen, die abertausenden technischen, wissenschaftlichen, medizinischen Fortschritte im Laufe von Jahrtausenden, um dem Menschen schwere Lasten abzunehmen und Freiräume für Musse und Genuss zu schaffen, die nahezu unfassbare Tatsache, dass es unter Abermilliarden von Menschen, die jemals diese Erde bewohnt haben, noch nie zwei mit den genau gleichen Empfindungen, dem genau gleichen Aussehen, der genau gleichen Augenfarbe und dem genau gleichen Klang der Stimme gegeben hat, ein unermessliches Füllhorn endloser, sich im Sekundentakt übersprudelnder Phantasie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses wunderbare Geschöpf letztlich zu nichts anderem geschaffen worden wäre, als sich selber auszulöschen. Wer immer dieses Geschöpf erschaffen hat, wo, wann, wie und weshalb auch immer, dies kann nicht die Idee gewesen sein.

Eine neue Zeit kommt, das spüren immer mehr Menschen. Aber sie kommt nicht von selber. Sie braucht unsere Arbeit. Unsere Leidenschaft. Unsere Hände. Unseren Mut. Unsere Unerbittlichkeit. Unseren Glauben an das Gute im Menschen. Unsere Liebe.

Wir haben es in der Hand.

Osterfriedensmarsch am 1. April 2024 in Bern, Rede der Palästinenserin Shirine Dajani: „Tagelang schreien die Kinder unter den Trümmern ihrer zerbombten Häuser, bis sie verstummen.“

Im Folgenden die Rede der Palästinenserin Shirine Dajani anlässlich des Osterfriedensmarschs in Bern am 1. April 2024. Während sie sprach, musste sie immer wieder gegen ihre Tränen ankämpfen, legte oft längere Pausen ein, um tief durchzuatmen, bevor sie weitersprechen konnte. Als sie vom Tod ihrer 12jährigen Patentochter Shireen sprach, musste ich an meine zehnjährige Enkelin denken und wie da eine ganze Welt zusammenbräche, wenn sie sterben müsste. In meinen Tränen und in den Tränen von Shirine floss in einem kurzen Augenblick all dieses Unaussprechliche ineinander…

Mein Name ist Shirine Dajani. Ich bin Palästinenserin. Ich habe unsere palästinensische
Sprache, unsere Kultur, unseren Humor und unsere Leidenschaft überallhin mitgenommen und sie haben mich am Leben erhalten. Es hat mich menschlich gehalten, trotz allem, was ich gesehen und erlebt habe.
Die Familie meiner Mutter stammt aus Haifa. Die Familie meines Vaters aus Yaffa. Meine beiden Familien wurden 1948 aus ihren Häusern und ihrem Land in Palästina deportiert und nach Beirut, Libanon, gebracht, wo sie zu Flüchtlingen wurden. Von einem Tag auf den anderen wurden sie staatenlos, ließen alles zurück und durften nie wieder in ihre Heimat, in ihr Land zurückkehren.
Ich weiß, was die Verwüstungen des Krieges den Menschen antun können. Und vor allem, was er Kindern antun kann. Ich war ein kleines Kind während des libanesischen Bürgerkriegs, eines blutigen und schrecklichen Krieges, in dessen Verlauf die israelische Armee 1982 in den Libanon einmarschierte. Ich wurde nur wenige Wochen geboren, bevor eine libanesische Miliz mit Hilfe der israelischen Armee die Flüchtlingslager Sabra und Shatila in Beirut stürmte und Tausende von unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern abschlachtete. Es hieß, es seien keine Schüsse, sondern nur Schreie zu hören gewesen, weil die palästinensischen Flüchtlinge mit Messern massakriert worden seien.
Meine Familie hatte das Glück, bei dieser Gelegenheit dem Tod zu entgehen, da sie nur 15 Gehminuten außerhalb der Lager eine Bleibe gefunden hatte. Das war im Jahr 1982.
1982 hatte Israel das Westjordanland und den Gazastreifen bereits 15 Jahre lang
unrechtmäßig besetzt und die Bevölkerung täglichen Demütigungen und seelisch
zermürbender Unterdrückung ausgesetzt. Palästinensisches Land zu besetzen und seine Bevölkerung einem brutalen Militärregime zu unterwerfen, ist ein sehr kostspieliges Unterfangen.
Spulen wir 42 Jahre vor. Die israelische Militärmaschinerie hat sich zu einer der mächtigsten und technologisch fortschrittlichsten Streitkräfte der Welt entwickelt.
Israel gibt jedes Jahr Milliarden von Dollar für die Aufrechterhaltung dieses Regimes aus. Im Jahr 2022 gab Israel 23 Milliarden USD für seine Militärausrüstung aus. Sie können sich vorstellen, was Israel in den letzten 6 Monaten für die Vernichtung des Gazastreifens ausgegeben hat. Was bedeutet das, all diese Milliarden von Dollar? Wie sieht das vor Ort aus?
Sie wissen vielleicht, dass die israelische Besetzung des Westjordanlandes und
Ostjerusalems nach internationalem Recht illegal ist. Israel hat 144 israelische Siedlungen im Westjordanland gebaut, die alle nach internationalem Recht illegal sind. Über 700.000 israelische Siedler leben im Westjordanland und in Ostjerusalem auf palästinensischem Land mit vollen Rechten, während über 3 Millionen Palästinenser unter israelischer Militärbesatzung leben, ohne jegliche Rechte. Diese militärische Besetzung der Palästinenser wird durch Hunderte von Checkpoints aufrechterhalten, die die Bewegungsfreiheit der Palästinenser einschränken und kontrollieren, die Palästinenser zwingen, andere Straßen zu benutzen als jüdische Israelis, und die Palästinenser erhalten andersfarbige Auto-Nummernschilder.

Eine Mauer viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch

Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise in das Leben eines Palästinensers, der im
Westjordanland lebt. Sie wurden in Bethlehem geboren. Als Palästinenser, der unter israelischer Besatzung lebt, haben Sie keine echte Staatsbürgerschaft, sondern nur einen Personalausweis. Sie können das Westjordanland nicht ohne die Erlaubnis der israelischen Regierung verlassen. Sie haben keinen Reisepass, der von den meisten Ländern anerkannt wird. Sie sitzen in der Falle. Vielleicht sind Sie Vater und haben eine Familie zu ernähren. Sie arbeiten auf dem Bau, einer der wenigen Jobs, die Ihnen zur Verfügung stehen. Sie verbringen Ihre Tage damit, Siedlungen, Häuser und Städte für jüdische Siedler zu bauen, Siedlungen, in denen Sie nicht leben dürfen. Sie wachen mitten in der Nacht auf, um zur Arbeit zu gehen, wie Tausende von Palästinensern aus dem Westjordanland. Um in den Siedlungen zur Arbeit zu gehen, müssen Sie einen oder mehrere Checkpoints passieren, die von bis an die Zähne bewaffneten israelischen Soldaten besetzt sind. Die beste Zeit, um den Checkpoint zu passieren, ist um 2 Uhr morgens, dann haben Sie die besten Chancen, durchzukommen, bevor es zu voll wird. Sie gehören zu den Tausenden von Palästinensern, die in effektive Käfige
gepfercht werden, um auf die andere Seite zu gelangen, wo Sie den Tag damit verbringen werden, für Israelis, die unendlich viel mehr Rechte und Privilegien haben als Sie, Fliesen zu verlegen, vielleicht für ein Schwimmbad. Und dann müssen Sie die zermürbende und quälende Erfahrung einer weiteren Reihe von Straßensperren und Checkpoints machen, um nach Hause zu gelangen, nur um dann wieder von vorne zu beginnen, mitten in der Nacht, tagein, tagaus.
Das Westjordanland ist nicht sehr groß. Bethlehem und Jerusalem sind weniger als 10 km voneinander entfernt. Ohne Einschränkungen würde die Fahrt 15 Minuten dauern. Für Palästinenser dauert es Stunden, weil sie die israelischen Straßen nicht benutzen dürfen und weil die israelischen Checkpoints über ihr Land verstreut sind. Die Checkpoints können von den israelischen Soldaten ohne Vorankündigung geschlossen werden, so dass die Palästinenser keine Ahnung haben, ob sie tatsächlich zur Arbeit, zur Schule, zum Krankenhaus oder zum Haus ihrer Familie gelangen werden.
Eines der imposantesten und bestrafendsten Elemente der Besatzung ist die über 700 km lange und 9 m hohe Trennmauer. Zum Vergleich: Sie ist viermal so lang wie die Berliner Mauer und 2,5mal so hoch. Die Mauer trennt palästinensische Dörfer voneinander, trennt palästinensische Bauern von ihren Ernten und isoliert ganze Dörfer, die von der Mauer umgeben sind, wobei einige dieser Dörfer nur einen Ein- und einen Ausgang haben, der wiederum von Soldaten besetzt ist, wie das Dorf Qualquilya.
Der Bau und Unterhalt der israelischen Mauer hat Milliarden von Dollar gekostet. Sie verfügt in einigen Teilen über Roboterwaffen, die Tränengas, Betäubungsgranaten und Kugeln auf Palästinenser abfeuern können. Sie nutzt künstliche Intelligenz, um Ziele zu verfolgen. Einige dieser Maschinen brauchen nicht einmal Menschen, um bemannt zu werden. Sie können aus der Ferne gesteuert werden. Können Sie sich vorstellen, Palästinenser zu sein und im Westjordanland in einer Stadt zu leben, die von dieser Mauer umgeben ist, mit nur einer Ein- und Ausfahrt, die von israelischen Soldaten kontrolliert wird? Können Sie sich vorstellen, ein Kind zu sein, das dort aufwächst und zusieht, wie seine Eltern, sein Vater, seine Mutter, seine Großeltern täglich Demütigungen ausgesetzt sind, nur um nach Hause zu kommen?
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und vergleichen Sie Ihre Freiheit hier, wie Sie sich
bewegen, wie Sie heute hierher gekommen sind. Sie mussten nicht darüber nachdenken, welche Checkpoints Sie passieren müssen, oder sich Sorgen über die Laune des israelischen Soldaten machen, der den Checkpoint besetzt, oder nicht wissen, ob Sie eine Stunde oder neun Stunden brauchen, um hierher zu kommen, oder fast hierher kommen und zurückgeschickt werden, nachdem Sie stundenlang in einer Schlange in einem überfüllten Käfig gewartet haben. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihre Bewegungsfreiheit praktisch vollständig von einer ausländischen Armee kontrolliert würde? Das ist das Westjordanland.

Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu töten?

Von Gaza habe ich noch gar nicht gesprochen. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass Israels Bombenangriff auf Gaza in den letzten 6 Monaten zu den tödlichsten und zerstörerischsten in der jüngeren Geschichte gehörte. Israel hat zwischen Oktober und Dezember 2023 über 45.000 Bomben auf Gaza abgeworfen, das sind 65.000 Tonnen Bomben. Aus dem Weltraum betrachtet hat Gaza jetzt eine andere Farbe.
Was bedeutet das für uns? Was bedeutet das für die Menschen? Wir verwenden Worte wie „Opfer“ oder „Kollateralschäden“, um über Menschen zu sprechen, die auf die schrecklichste Weise getötet werden. Amnesty International hat Israel vorgeworfen, in den letzten Monaten weiße Phosphorbomben auf dicht besiedelte zivile Gebiete eingesetzt zu haben. Wie funktioniert eine Phosphorbombe? Weißer Phosphor ist für den Menschen auf allen Expositionswegen schädlich. Weißer Phosphor kann tiefe und schwere Verbrennungen verursachen, die sogar Knochen durchdringen. Aus diesem Grund gilt der Einsatz von weißem Phosphor als Brandwaffe in Gebieten mit
Zivilbevölkerung nach internationalem Recht weitgehend als illegal.
Ich habe meine Patentochter in Gaza verloren, sie wurde am 18. Dezember getötet.
Weiße Phosphorbomben fielen auf und um ihr Haus im Norden des Gazastreifens.
Sie war 12 Jahre alt, ihr Name war Shireen, sie wurde nach mir benannt. Weißer Phosphor verbrannte ihre Lunge, ihre Organe, sie litt tagelang, bis sie starb. Ihre Mutter hielt sie noch stundenlang nach ihrem Tod in den Armen. Das ist es, was die Waffenindustrie ist. Das ist es, was sie bedeutet. Sie bedeutet, dass über 13.000 Kinder auf grausamste Weise getötet werden, dass sie tagelang unter den Trümmern eines Gebäudes festsitzen, bis sie sterben, dass sie tagelang schreien, bis sie sterben.
Mindestens 13.000 weitere Kinder wie Shireen wurden seit dem 7. Oktober im Gazastreifen auf brutale Weise getötet, das sind mehr als alle Kinder, die in den letzten vier Jahren in Konflikten auf der ganzen Welt getötet wurden, zusammen. Wie ist das möglich? Haben wir das Töten von Kindern normalisiert?
Die Palästinenser fordern einen Waffenstillstand. Sie fordern, wie menschliche Wesen
behandelt zu werden. Sie fordern das Recht auf Existenz wie jeder andere Mensch hier. Das ist nicht radikal. Was sie fordern, ist so elementar, und doch ist es ein so polarisierendes Thema, gerade hier in der Schweiz.
Wir schreien danach, dass die Welt aufhört, uns zu töten. Wir fordern grundlegende
Menschenrechte, und doch sind unsere Forderungen zu radikal, zu extrem. Seit wann ist es eine radikale Idee, zu fordern, dass man aufhört, Tausende von Kindern zu
töten, sie zu verstümmeln, sie zu Waisen zu machen, indem man ihre Eltern und ihre ganzen Familien ermordet? Haben wir unseren Verstand verloren? Haben wir völlig den Verstand verloren?
Wir haben keine Zeit mehr für Debatten und Überlegungen. Wir haben keine Zeit mehr. Der Schaden, der den Palästinensern, den Überlebenden, zugefügt wurde und wird, wird sich auf alle kommenden Generationen auswirken. Der Schaden für die israelische Gesellschaft, die eines Tages aufwachen wird und mit dem leben muss, was ihre Regierung und ihre Soldaten getan haben, wird über Generationen hinweg nachwirken. Dies ist ein Schandfleck für unsere Menschheit, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dem Einhalt zu gebieten und zu verhindern, dass dies jemals wieder geschieht.
Ein Waffenstillstand ist das absolute Minimum. Wir müssen alle Waffenexporte nach Israel stoppen. Wir müssen das barbarische und unmenschliche Aushungern des palästinensischen Volkes beenden. Wir müssen unsere Stimme erheben, um Nein zum Krieg zu sagen. Wir dürfen das Töten von unschuldigen Menschen und Kindern niemals normalisieren. Wir dürfen uns nicht abwenden, sondern müssen uns einander zuwenden und NEIN zu diesem Wahnsinn sagen.
Die Leute fragen mich, wie sie helfen können. Geben Sie Informationen darüber weiter, was in Gaza passiert. Viele Menschen wissen es nicht, weil unsere Medien hier sehr wenig über die Gräueltaten berichten. Sie alle können helfen, indem Sie Ihre Stimme einsetzen, um für die Stimmlosen einzutreten. Sprechen Sie lauter. Nutzen Sie Ihre Stimmen. Rufen Sie Ihre Politiker an. Schreiben Sie an sie. Boykottieren Sie Waffenhersteller und jedes Unternehmen, das vom Krieg profitiert. Und lassen Sie sich von niemandem einreden, dass dies einfach ein normaler Teil der Welt ist, wie
sie eben funktioniert. Das ist nicht normal, und wir dürfen die brutale Unterdrückung und Tötung von Menschen niemals als normal akzeptieren. Alles, was wir haben, ist unsere Menschlichkeit, und wir müssen Widerstand leisten und uns mit allem, was wir haben, wehren, um sie zu schützen.