Archiv des Autors: Peter Sutter

Die „Rundschau“ am Schweizer Fernsehen vom 8. Mai 2024: Ein Lehrstück in Sachen Politpropaganda und Demagogie unter dem Deckmantel angeblich objektiver Informationsvermittlung…

Unter dem Titel „Linksextrem und gewaltbereit: Recherchen von der Demo-Front“ war der Beitrag der „Rundschau“ vom 8. Mai 2024 im Fernsehprogramm von SRF1 angekündigt worden: Und genau so, wie es der Titel mit der Verknüpfung zweier Begriffe, die man zunächst einmal klar definieren und voneinander abgrenzen müsste, versprochen hatte, ging es dann auch rund 20 Minuten lang weiter: Ein regelrechtes Lehrstück, wie man Politpropaganda und Demagogie auf so raffinierte Weise betreiben kann, dass die, welche sich dies alles vor dem Bildschirm zu Gemüte führen, dennoch vermutlich grossmehrheitlich das Gefühl haben, objektiv, umfassend und absolut wahrheitsgetreu informiert worden zu sein…

Es beginnt schon mit der Anmoderation von Gion-Duri Vincenz, in welcher dieser behauptet, es sei in der Schweiz in den letzten Jahren eine „zunehmende linksextreme Gewalt“ festzustellen, was sich im Verlaufe der Sendung zu einem späteren Zeitpunkt als Falschaussage herausstellen wird, aber da ist die schlagkräftige Aussage schon längst in den Köpfen angekommen und auch durch eine kurz eingeblendete Statistik wohl kaum mehr wegzukriegen. Und so geht es weiter, Schlag auf Schlag, Bild um Bild, aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen, unbedachte und vorschnelle Verknüpfung von Begriffen, die nichts miteinander zu tun haben, das Ausblenden aller tiefergehenden Zusammenhänge. Der Bericht beginnt mit den „schwersten Ausschreitungen seit Jahren“, anlässlich der Feier zum 1. Mai an der Berner Reitschule, begangen von „Gewalttätern, die der linksextremen Szene zugeordnet werden“: Polizeifahrzeuge, Rauchschwaden, brennende Holzpalette, dazu der Kommentar, die Polizei sei mit Steinen, Laser und Feuerwerkskörpern angegriffen worden, es hätte elf Verletzte gegeben und drei von ihnen hätten ins Spital eingeliefert werden müssen. Man hätte ja auch die eine oder andere auf den Transparenten gezeigte Parole zeigen, sich mit deren Inhalt auseinandersetzen oder gar der Frage nachgehen können, wie es überhaupt dazu gekommen ist, den 1. Mai weltweit als „Tag der Arbeit“ zu feiern und was für eine hochaktuelle Bedeutung er heute immer noch hat, aber nein, effekthaschende Bilder von wild herumrennenden Polizistinnen und Polizisten, in die Höhe schiessenden Rauchpetarden und vermummten Gesichtern Demonstrierender verkaufen sich da viel, viel besser…

„In Winterthur“, so hören wir, „freuen sich Parteien und Gewerkschaften auf den Umzug, aber weiter hinten freut man sich auf Randale.“ Und wieder wird nicht auf die politischen Forderungen der Parteien und Gewerkschaften eingegangen, obwohl deren Vertreterinnen und Vertreter die weitaus überwiegende Mehrheit des Demonstrationszugs bilden, sondern einzig und allein auf die „Randale“ einer Minderheit, denn nur die bringen die nötigen Einschaltquoten. Gezeigt werden „vermummte Figuren“ unter einem riesigen weissen Tuch, zwei Hände, die den Blick der Fernsehkamera auf das Geschehen zu versperren versuchen, sowie Sprayereien an Wänden und Fassaden entlang der Kundgebungsroute.

Ortswechsel zu den Feierlichkeiten in St. Gallen. Dort hat man offensichtlich keine Rauchbomben und Sprayereien gefunden, dafür eine 22jährige Aktivistin, die, im Demonstrationszug mitmarschierend, aus Leibeskräften immer wieder das Wort „Revolution“ skandiert, was für viele Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer vermutlich schon genug des Teufels ist, auch wenn heute in sämtlichen Geschichtsbüchern nachzulesen ist, dass es ohne die Französische Revolution von 1789 mit ihren Forderungen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität kaum jene moderne Demokratie gäbe, auf die wir heute alle so stolz sind. Miriam Rizvi, so erfahren wir schon mal prophylaktisch, ist in St. Gallen eine „höchst umstrittene Figur“. Und zwar deshalb, weil sie des Öfteren im „Schwarzen Block“ mitmarschiere und gleichzeitig als gewähltes Mitglied im St. Galler Stadtparlament sitze. Die Rundschau-Macher können sich offensichtlich nicht vorstellen, dass man gleichzeitig mit aller bis an die Grenzen oder darüber hinaus gehenden Leidenschaft für eine gerechtere Welt kämpfen kann und gleichzeitig im Parlament mitarbeitet, um wenigstens einen winzigen Teil davon in die Realität umzusetzen. Eigentlich bewundernswert, wenn Miriam Rizvi im Interview sagt, sie sitze auch deshalb im Parlament, weil sie auf diese Weise mehr über ihre „Haltungen lernen“ könne. Aber selbst das wird nicht gewürdigt, würde es doch nicht in das ausschliesslich negative Bild passen, das man offensichtlich vermitteln möchte. Und so greift der Kommentator völlig aus dem Zusammenhang gerissen zum nächsten gänzlich unlogischen Satz, in dem er sagt, dass solche „Haltungen auch mal zu illegalen Aktionen führen“ können, obwohl Rizvi vermutlich genau das Gegenteil gemeint hat. Offensichtlich scheint sich der Kommentator seiner Sache dann aber doch nicht ganz so sicher zu sein und zeigt dann im nächsten Bild den nackten Fuss von Rizvi auf dem Boden des Ratssaales, wahrscheinlich um all jene ins Boot zu holen, die definitiv der Meinung sind, so etwas gehöre sich auf gar keinen Fall. Um dann mit einem Artikel aus dem „Blick“ nachzudoppeln, in dem zu lesen ist: „Linksaussen-Politikerin soll Hausfassaden mit Graffiti verschandelt haben“, sie sei festgenommen worden und es liege gegen sie ein Strafbefehl vor. Doch erneut scheint der Kommentator der Wirkung dieser Worte nicht ganz zu trauen, sonst würde er wohl nicht die beiden Begriffe „festgenommen“ und „Strafbefehl“ aus dem Text herauspicken, sie bis zu bildschirmfüllender Grösse aufblasen und zusätzlich mit einer bedrohlich klingenden Männerstimme aus dem Off unterlegen.

In der nächsten Sequenz sehen wir ein Transparent über einem Firmenschild des Holcim-Konzerns. „Auch diese Plakataktion auf dem Gelände eines Kieswerks“, so vernehmen wir, „wird Miriam Rizvi zugeschrieben“, ebenso wie eine Waldbesetzung im Aargau, die im nächsten Bild zu sehen ist: Eine Gruppe Jugendlicher prügeln sich zwischen verschneiten Bäumen mit einem Polizisten. Rizvi: „Wir wollten die Rodung dieses Waldes stoppen, um unser Klima zu schützen.“ Wäre nicht spätestens jetzt der Moment gekommen, kurz innezuhalten und der Frage nachzugehen, welchen Einfluss die Rodung von Wäldern auf die Klimaerwärmung hat und wie man das möglicherweise verhindern könnte? Aber nein, lieber so schnell wie möglich weiter zum nächsten Bild: eine rote Juso-Fahne, dazu der Kommentar: „Wie viel Radikalisierung steckt in den Juso?“

Diese Frage versucht die nächste Sequenz zu beantworten. Wir sind bei der Delegiertenversammlung der Juso in Frauenfeld. Melanie Del Fabro, eine 18jährige Gymnasiastin und Vorstandsmitglied der Juso Aargau, sagt: „In einer Welt, wo sich Krisen immer mehr zuspitzen und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, in einer Welt, die vom Klimawandel bedroht ist, ja, in einer solchen Welt braucht es radikale Lösungen. Ziviler Ungehorsam gehört zu einer gelebten Demokratie.“ Was für einen Steilpass liefert die 18Jährige, dem man nun ernsthaft nachgehen könnte, auch durch eine sorgfältige Abgrenzung zwischen „radikal“ und „extrem“, was ganz und gar nicht das Gleiche ist, oder durch eine fundierte Diskussion darüber, was „ziviler Ungehorsam“ konkret bedeuten kann – immerhin war es die Methode, mit der Mahatma Gandhi ganz Indien von der britischen Kolonialherrschaft befreite und Martin Luther King die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung in den USA erkämpfte. Aber nein, für solcherlei ist keine Zeit. Lieber eilt man in Sekundenschnelle, nur kurz unterbrochen durch irgendein grünrot aufblitzendes Zerrbild, dessen Inhalt nicht zu deuten ist, weiter zum nächsten Hammerschlag: Wieder grimmig dreinblickende Polizeibeamte, der Schwarze Block, Rauchpetarden und dazu der Kommentar: „Linker Aktivismus ist nicht nur ziviler Ungehorsam, oft mündet er in Gewalt, Auseinandersetzungen mit der Polizei und Sachschäden.“ Hierzu sieht man eine Strasse, auf der neben einem Polizeiauto ein Knallkörper explodiert, und bekommt dazu die Information, dass die durch linke Demos verursachten Kosten allein im Kanton Zürich 2022 eineinhalb Millionen Franken verschlungen hätten, sechs Mal mehr als im vorangegangenen Coronajahr, was sich ja eigentlich relativ simpel erklären lassen würde.

Als nächstes werden wir mit dem Lagebericht 2023 des Bundesnachrichtendienstes konfrontiert, wo Folgendes zu lesen ist: „Es ist auch mit einer Zunahme direkter Gewalt gegen Menschen, namentlich gegen als dem Rechtsextremismus zugehörig angesehene Personen und gegen Sicherheitskräfte zu rechnen.“ Hat der Bundesnachrichtendienst hellseherische Fähigkeiten oder geht es einfach einmal mehr darum, Ängste zu schüren und den Teufel an die Wand zu malen? Die kurz darauf eingeblendete Statistik zeigt nämlich, dass die Anzahl linksextremer Vorfälle seit 2016 mehr oder weniger konstant geblieben ist und es 2018 sogar mehr Vorfälle gab als vier Jahre später. Doch die paar trockenen, nur kurz eingeblendeten Zahlen werden wenig Wirkung haben gegen die Flut von Bildern und Schlagwörtern, mit denen wir nun schon seit einer Viertelstunde bombardiert worden sind.

Weiter geht es zur HSG, der in linken Kreisen berüchtigten St. Galler Kaderschmiede für die zukünftige Wirtschaftselite. Angesprochen auf ein Flugblatt der Juso St. Gallen, auf dem die „Sprengung“ der HSG gefordert wird, meint Miriam Rizvi, solche Ausdrücke seien eine Folge der Verzweiflung und der Ohnmachtsgefühle gegenüber einem System, auf das man kaum Einfluss nehmen könne. Sie lehne aber, so Rizvi, jegliche Gewalt an Lesewesen in aller Entschiedenheit ab. Zugegebenermassen könnte man an dieser Stelle darüber diskutieren, ob die Forderung nach einer „Sprengung“ auf diesem Flugblatt tatsächlich angemessen sei. Aber mindestens so intensiv müsste man dann darüber diskutieren, ob das unerschütterliche Festhalten an einem Wirtschaftssystem, von dem eine Minderheit so masslos profitiert und unter dem eine immer grössere Anzahl von Menschen ebenso masslos leiden, junge, noch an friedliche und gerechte Zukunft glaubende Menschen nicht zwangsläufig so weit treiben muss, dass sie ihre Verzweiflung gar nicht mehr anders auszudrücken vermögen als dadurch, dass sie sich auf Strassen kleben, Wälder besetzen oder Mauern und Hausfassaden besprayen.

„Der Kapitalismus muss sterben, damit wir leben können“, so Juso-Präsident Nicola Siegrist anlässlich einer Juso-Delegiertenversammlung, die uns als nächstes gezeigt wird. Fürwahr radikale Worte, aber auch sie könnten Anlass zu einer ernsthaften und tiefschürfenden Debatte sein. Doch lieber wird jetzt der Rucksack der 18jährigen Melanie Del Fabro eingeblendet, auf dem ein Emblem der antifaschistischen Aktion 161 Crew aufgeklebt ist, unmittelbar darauf werden antifaschistische Gewaltexzesse gezeigt, die in Deutschland und Frankreich begangen wurden. Diese Bilder werden ihren Eindruck zweifellos nicht verfehlen und sich mit allem anderen, was in dieser Reportage bisher schon gezeigt wurde, zu dem gewünschten Feindbild linken politischen Engagements vermischen: erbarmungslos in aller Öffentlichkeit zusammengeprügelte Jugendliche, von blutigen Striemen übersäte Rücken, mit Messern zerschnittene Gesichter, dick und blau angeschwollene Augen, Köpfe voller Platzwunden – als wäre es für über 99 Prozent oder vermutlich sogar 100 Prozent aller hierzulande politisch aktiver Linken nicht völlig selbstverständlich, sich von solchen Exzessen zu distanzieren und nicht einmal auf die Idee zu kommen, solche zu verüben.

Doch während „Gewalt“ von „unten“ in dieser Reportage ausführlichst dargestellt wird, haben wir vergebens auch nur einen einzigen Hinweis darauf gesucht, dass es eben auch Gewalt von „oben“ gibt, nur dass diese weitgehend unsichtbar ist und sich nicht so wie die Gewalt von „unten“ dermassen ausführlich darstellen und zerpflücken lässt. So dass bei den allermeisten, welche diese Sendung ohne kritisches Hinterfragen gesehen haben werden, zweifellos dieser Eindruck zurückbleiben wird: Daneben ist nicht ein Wirtschaftssystem, in dem Aktionäre von Rüstungsfirmen dadurch reich werden, dass unzählige andere Menschen getötet oder verstümmelt werden. Daneben ist nicht das Dogma unersättlicher Profitmaximierung, welches zur Folge hat, dass die Güter weltweit nicht dorthin fliessen, wo sie am dringendsten gebraucht werden, sondern dorthin, wo sie am gewinnbringendsten verkauft werden können, sodass in den reichen Ländern des Nordens ein Drittel der Lebensmittel im Müll landen, während in den armen Ländern des Südens jeden Tag zehntausend Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Daneben ist nicht der Glaube an ein endloses Wirtschaftswachstum, der dazu führt, dass schon heute systematisch alle Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen unwiederbringlich zerstört werden. Daneben sind nur die, welche sich gegen all dies auflehnen, mit wieviel Leidenschaft und wieviel Verzweiflung auch immer.

Leid tun mir nicht nur all die unzähligen weltweiten Opfer der nahezu unsichtbaren kapitalistischen Systemgewalt, von denen niemand spricht. Leid tun mir vor allem auch all jene jungen Menschen wie Miriam Rizvi, die heute noch unbeirrt, bis zur Erschöpfung „Revolution“ skandierend, durch unsere Strassen ziehen, denn es ist zu befürchten, dass ihre Kraft, ihre Hoffnungen und ihre Visionen eines Tages, früher oder später, aufgebraucht sein werden, sie dann in Resignation, Hoffnungslosigkeit oder gar in Depressionen versinken könnten und dann niemand mehr da ist, um uns zu erinnern, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, als sie heute ist. Und nicht zuletzt tun mir auch all die Medienschaffenden Leid, die wegen des gewaltigen Zeitdrucks, unter dem sie solche Sendungen produzieren müssen, gar nicht genug Ressourcen für sorgfältiges Recherchieren haben und zudem beständig den – wiederum durch das kapitalistische Konkurrenzprinzip bedingten – Druck im Nacken spüren, auf Teufel komm raus möglichst hohe Einschaltquoten zu erzielen, mit was für fragwürdigen Mitteln auch immer. Dann sollte man aber konsequenterweise lieber gar keine „Informationssendungen“ mehr machen als solche.

„Es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen der politischen Zensur in westlichen Gesellschaften und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit während der Herrschaft Mao Zedongs in China“, sagt der chinesische Künstler, Dissident und Systemkritiker Ai Weiwei, „und es besteht eine erschreckende Abneigung in der westlichen Gesellschaft, Fragen zu stellen oder sich auf Argumente einzulassen.“ Diese Einseitigkeit nehme er vor allem auch in den Medien wahr. Solange Weiwei seine Kritik gegen den chinesischen Einheitsparteistaat erhob, war der Westen voll des Lobes für ihn. Jetzt, wo er die gleiche Kritik gegen den Westen richtet, wird er verschwiegen. Der besagte Rundschau-Report ist nur eines von unzähligen Beispielen, wie aktuell seine Analyse ist. Denn eine Diktatur, die sich offen als solche bekennt, ist letztlich viel einfacher zu bekämpfen als ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das sich offiziell als demokratisch bezeichnet, tatsächlich aber über genug raffinierte Instrumente der Meinungsbildung verfügt, um Meinungen, Denkmuster, Tatsachen und „Wahrheiten“ so darzustellen und so zurechtzubiegen, dass es für die Reichen und Mächtigen, die eben alles andere als eine „Revolution“ wollen, nur nicht allzu gefährlich wird…

Nachtrag am 21. Mai. Ich habe meine kritische Analyse der Sendung auch dem Fernsehen SRF direkt zukommen lassen. Urs Gilgen von der Rundschau-Redaktion hat dazu wie folgt Stellung bezogen: „Danke für Ihre ausführliche Rückmeldung zum Beitrag in der Rundschau. Wir hatten für den Beitrag eine ganz klare Frage: Wo grenzt sich die Juso ab von linksradikalen Methoden bis linksextremen Exzessen. Die gibt es nämlich durchaus. Ich garantiere Ihnen, ich habe dazu genug recherchiert und auch persönlich erlebt. Diese Fragestellung schien uns legitim, wir haben die gleiche Frage auch auf der rechten Seite gestellt – ohne Links- und Rechtsextremismus gleichzustellen. Und der Nachrichtendienst spricht ja durchaus von steigenden linksextremistischen Vorfällen. Wir haben es im Beitrag zitiert. Da es in der Juso Figuren gibt, die radikale Methoden befürworten, wollten wir wissen, wo da die Grenzen liegen. Da liegt es in der Natur der Sache, dass wir auch linksradikale Methoden zeigen. Die befragten Personen hatten allesamt die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Und wenn ich Ihre Zeilen lese, dann merke ich, dass deren Botschaft bei Ihnen angekommen ist. Dass wir dann nicht noch den zivilen Ungehorsam gewürdigt und die Inhalte der 1-Mai-Demo gross aufgezeigt haben, mag vielleicht störend sein, aber da gibt es ja eine Arbeitsteilung unter den verschiedenen Sendungen. In anderen Gefässen sind die Themen wie Wohnungsmangel, Exzesskapitalismus, Kaufkraft und Krankenkassenprämien ja durchaus sichtbar gewesen. Wir haben uns in der Rundschau auf eine andere Fragestellung konzentriert. Erlauben Sie mir noch dies zu schreiben: Ich kann Ihre Worte über die Gewalt von oben persönlich gut nachvollziehen. Aber ich bin der Überzeugung, dass es in unserer Gesellschaft nötig ist, auch links hinzuschauen. Frau Rizvi ist tatsächlich aufopfernd in ihrer Sache, und ihre Methoden mögen für einige Leute nachvollziehbar sein. Aber es findet eine Radikalisierung statt in unserer Gesellschaft. Auch links, und zwar massiv. So erlebe ich es als Journalist. Was die etablierten Parteien als Teil des demokratischen Diskurses hierzu sagen, ist relevant.“ Erfreulich, dass der für die Sendung Verantwortliche ausführlich Stellung genommen hat, auch wenn natürlich die in meinem Artikel erwähnten Kritikpunkte damit nicht wirklich entkräftet worden sind.

Pro-Palästina-Proteste jetzt auch an Deutschschweizer Hochschulen „im Keim erstickt“: Die Angst vor der Wahrheit muss unermesslich sein…

„Gaza-Proteste an der ETH in Zürich im Keim erstickt“ – so die Schlagzeile auf der Titelseite des „Tagesanzeigers“ vom 8. Mai 2024. Während die Uni-Besetzung in Lausanne noch andauere und ständig wachse, sei in Zürich, so schreibt die Zeitung, „schon nach wenig mehr als drei Stunden Schluss“ gewesen, die Demonstrierenden seien „wegen Hausfriedensbruch von der Stadtpolizei abgeführt“ worden, eine Person nach der andern, bis sich die letzten fünf Frauen gemeinsam hätten abführen lassen, um dann aber nochmals gemeinsam aufzustehen und „Free Palestine“ zu rufen. Nach der Räumung des Gebäudes hätte die ETH ein Communiqué verschickt mit der Mitteilung, „unbewilligte Aktionen“ würden „nicht akzeptiert“. „Unsere Rolle“, so Luciana Vaccaro, Präsidentin der Schweizer Hochschulen, im Interview mit dem „Tagesanzeiger“, „ist eine akademische, nachdenkende, verstehende – nicht eine politische.“ Und Johanne Gurfinkel, Leiter des Westschweizer Büros gegen Antisemitismus und Diffamierung, spricht von einer „kleinen Minderheit romantisch verklärter Revolutionäre, die sich nicht wirklich bewusst sind, was sie mit ihrem Handeln bewirken, während die Mehrheit der Studierenden schweigt“.

Besonders scharf kritisiert wird auch in diesem Artikel des „Tagesanzeigers“, dass bei diesen Protestaktionen immer wieder „antisemitische Äusserungen“ zu hören seien, insbesondere die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“, welche Israel das Existenzrecht abspreche. Fabian Renz spricht in einem speziellen redaktionellen Kommentar sogar von einem „trivialen Weltbild der Israelhasser“. Auch er fordert, „offen antisemitische Slogans“ wie die von ihm als „Schlachtruf“ bezeichnete Parole „From the river to the sea“ seien „entschieden abzuklemmen“, denn sie seien „Auswuchs eines Denkens, das den Israelis die alleinige Schuld für sämtliche Bluttaten im Nahen Osten aufbürdet und damit den kompliziertesten Konflikt der Welt in das antagonistisch-triviale Schema eines Hollywood-Blockbusters zwängt: da die Schurken, dort die unterdrückten Freiheitskämpfer.“

Haben all die Gelehrten, welche diese propalästinensischen Proteste so einhellig verurteilen, und all die Journalisten, die ebenso einhellig ins gleiche Horn blasen, eigentlich, bevor sie diese Stellungnahmen geschrieben haben, nie ein Geschichtsbuch gelesen über die Hintergründe und die Ursachen des seit über sieben Jahrzehnten schwelenden Nahostkonflikts? Und haben sie nicht zur Kenntnis genommen, dass die allermeisten Palästinenserinnen und Palästinenser und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten ganz und gar nicht diesen Slogan vom „Fluss“ und vom „Meer“ so interpretieren wie sie? Lesen die Journalisten des „Tagesanzeigers“ nicht einmal ihre eigene Zeitung? Dort nämlich sagte Ruth Dreifuss, die ehemalige Schweizer Bundesrätin mit jüdischen Wurzeln, am 26. Januar 2024 Folgendes: „Ich verstehe diese Parole so, dass die Region vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein soll von Krieg und Diskriminierung. Dies bedeutet nichts anderes als die friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“ Also das pure Gegenteil dessen, was immer wieder behauptet wird. Aber es ist eben, wie schon Abraham Lincoln wusste, „leichter, eine Lüge zu glauben, die man tausendmal hört, als die Wahrheit, die man nur einmal hört.“

Aber das Ganze ist sogar noch viel verrückter. Denn eigentlich trifft genau diese Parole, betrachtet man sie von der anderen Seite her, nämlich der jüdisch-israelischen, in weitaus gravierenderem Ausmass tatsächlich ins Schwarze. „De facto“, so Amira Hass, jüdische Historikerin und Journalistin, „dehnte der Staat Israel seit seiner Gründung seine Souveränität kontinuierlich vom Mittelmeer bis zum Jordan aus.“ Bereits 1938, zehn Jahre vor der Gründung des Staates Israel, sagte der spätere Staatsgründer David Ben Gurion: „Ich bin für die Zwangsumsiedlung der arabischen Bevölkerung und sehe darin nichts Unmenschliches.“ Ab 1948 wurde die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas von den Juden vertrieben und die Hälfte ihrer Dörfer und Städte zerstört. „Und doch“, so Ilan Pappe in seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, wurde dieses Verbrechen nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt. Man stelle sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Dörfer und Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht würden. Man stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche diplomatische Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig ausser Acht lassen.“ Im sogenannten „Plan Dalet“ vom 10. März 1948 ist wortwörtlich zu lesen: „Die Operationen gegen die arabischen Siedlungen lassen sich entweder durch Zerstörung von Dörfern durchführen, indem man sie in Brand steckt, sprengt und die Trümmer vermint, oder durch Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen hinaus zu vertreiben.“ Eine palästinensische Mehrheit im Land, so Ben Gurion, würde „jüdische Siedler zwingen, Gewalt anzuwenden, um den Traum eines rein jüdischen Palästina zu verwirklichen“. Gemäss Angaben des „Badil Resource Centers“ wurden 1948 in den Gebieten, aus denen der Staat Israel hervorging, 85 Prozent der ansässigen Palästinenserinnen und Palästinenser zu Flüchtlingen.

Die „Vision“ eines rein jüdischen Palästina ist in der Tradition der israelischen Staatsgründer bis heute ungebrochen. Im September 2023 präsentierte der israelische Premierminister Netanyahu anlässlich einer Sitzung der UN-Vollversammlung eine Landkarte Israels, auf der sämtliche palästinensische Gebiete Israel zugerechnet wurden. Der israelische General Giova Eiland meinte in einem Zeitungsinterview, Israel habe gar keine andere Wahl, als den Gazastreifen in einen Ort zu verwandeln, an dem es „vorübergehend oder dauerhaft unmöglich ist, zu leben“. Und Nir Barkat, der derzeitige Wirtschaftsminister Israels, liess verlauten, Israel werde die Palästinenser „vom Angesicht der Erde tilgen“.

Was all jene, die der Parole „From the river to the see, Palestine will be free“ unterstellen, nämlich, dass diese auf eine Vernichtung des israelischen Staates abziele, ist das, was man in der Psychologie eine „Projektion“ nennt, klassischer geht es nicht: Das, was die israelische Regierung und ihre Sympathisanten der palästinensischen Seite vorwerfen, ist genau das, was sie selber tun, buchstäblich vom Meer bis zum Fluss, aber nicht bloss mutmasslich, sondern ganz real und mit Zehntausenden unschuldiger Opfer. Die Täter-Opfer-Umkehr dient einzig und allein der Rechtfertigung der von Israel selber begangenen Verbrechen. Und wenn der Kommentator des „Tagesanzeigers“ schreibt, es handle sich beim Zwist zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung um den „kompliziertesten Konflikt der Welt“, so ist auch das eine ans schier Unfassbare grenzende Verdrehung der Tatsachen und will offensichtlich bloss bezwecken, den Propalästina-Protesten jegliche Legitimation unter den Füssen wegzuziehen. Tatsächlich ist es nichts „Kompliziertes“, sondern etwas zutiefst erschreckend „Einfaches“: Rassismus und Völkervernichtung in ihrer extremsten, aller minimalster Humanität spottenden Ausprägung, durch keine noch so weit hergeholte „Begründung“ oder Verharmlosung jemals zu rechtfertigen. Wenn Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in der Schweiz, in einem Interview mit der Gratiszeitung „20minuten“ vom 8. Mai sagt, Israel werde beim geplanten Angriff auf Rafah „sehr sorgfältig vorgehen“, und sie zudem die Behauptung aufstellt, weltweit „kein anderes Land“ zu kennen, das die betroffene Zivilbevölkerung dermassen umfassend „vorab informiere“, um sie zu „schützen“, dann kann man sich nur wundern, weshalb nicht schon längst die ganze Welt aufgestanden ist und vor allem auch die offizielle Schweiz, die sich stets auf ihre humanitäre Tradition beruft, zu alledem immer noch schweigt und sich damit mitverantwortlich macht für eines der grössten Verbrechen, das zurzeit auf diesem Planeten im Gange ist.

Wenn selbst die Präsidentin der Schweizer Hochschulen, die doch geradezu dazu prädestiniert sein müssten, ein Hort der Wissenschaften und der Aufklärung zu sein, von der Gefahr einer „Instrumentalisierung der Studierenden“ spricht und die Rolle der Hochschulen als eine rein „akademische“, „nachdenkende“, „verstehende“, aber explizit „nicht politische“ definiert, und wenn das Wichtigste, was der „Tagesanzeiger“ auf seiner Titelseite verkündet, darin besteht, dass die Proteste „im Keim erstickt“ worden seien, dann muss die Angst dieser „Machtträger“ davor, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte, schon unermesslich gross sein. Nicht im Aufdecken der Wahrheit, nicht in der mutigen Parteinahme für die Menschlichkeit scheinen diese unsere „Eliten“ ihre Aufgabe zu sehen, sondern offensichtlich genau im Gegenteil: im Verschweigen, im Rechtfertigen, im Verharmlosen, in der Unterdrückung all dessen, was über Jahrzehnte hinweg geglaubte „Wahrheiten“ in Frage stellen und die über so lange Zeit aufgebauten Weltbilder ins Wanken bringen könnte. Doch für immer lässt sich die Wahrheit auch mit noch so vielen Lügen, Geschichtsverfälschungen, Hausverboten und Polizisten nicht unter dem Deckel halten. Irgendwann, früher oder später, wird sie ans Tageslicht gelangen. Und dann wird aller Voraussicht nach eine ganze andere Geschichte geschrieben werden als die, welche wir heute in unseren Zeitungen lesen und die uns als alleinige „Wahrheit“ verkauft wird. Denn „man kann zwar“, so Abraham Lincoln, „dem ganzen Volk die Wahrheit eine Zeitlang vorenthalten, auch einem Teil des Volkes die ganze Zeit, aber nicht dem ganzen Volk die ganze Zeit.“

Nachtrag am 20. Mai 2024: Ich habe diesen Text in gekürzter Form am 10. Mai als Leserbrief an den „Tagesanzeiger“ geschickt. Bis heute ist er nicht publiziert worden.

Nachtrag am 23. Mai 2024: Auf meine Nachfrage, weshalb der Leserbrief nicht veröffentlicht wurde, habe ich heute von der Leserbriefredaktion des „Tagesanzeigers“ die Antwort bekommen, er hätte aus „Platzgründen“ nicht berücksichtigt werden können. Meine Rückmeldung an die Leserbriefredaktion: „Den Leserbrief hätte ich wichtig gefunden. Nicht weil er von mir geschrieben wurde. Sondern weil er eine andere mögliche Interpretation des Slogans FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE aufgezeigt hätte, notabene immerhin von einer ehemaligen Schweizer Bundesrätin. Es wäre ein notwendiges Korrektiv gewesen zu der in zahlreichen TA-Artikeln wiederholten Interpretation des Slogans, wonach er Israel das Existenzrecht abspreche. Wie können sich die Leserinnen und Leser ein objektives Bild machen, wenn sie nur die eine Seite der Wahrheit hören? Übrigens vertreten von den zwei Palästinensern, die ich persönlich kenne und die heute in der Schweiz leben, beide dezidiert die von Ruth Dreifuss geäusserte Interpretation. Wenn Sie schreiben, dass der Leserbrief aus Platzgründen nicht veröffentlicht werden konnte, dann frage ich mich, weshalb es in einer Zeit so vieler Konflikte und weltweit so existenzieller Fragestellungen immer wieder TA-Ausgaben gibt, in denen nicht ein einziger Leserbrief zu finden ist, und auch in den übrigen Ausgaben die Leserbriefe meist nur wenig Raum einnehmen, während ich mich an Zeiten erinnern kann, da jeweils täglich eine ganze Seite für Leserbriefe zur Verfügung stand. Ist Ihnen die Meinung Ihrer Leserinnen und Leser so wenig wichtig?“

Fehler machen

Nur wer sich nie exponiert, kann keine Fehler machen. Aber vielleicht ist ja gerade das, sich nicht zu exponieren, der grösste Fehler, den man überhaupt machen kann.

8. Montagsgespräch vom 6. Mai 2024: Kann mit mehr Waffen mehr Sicherheit geschaffen werden?

Den aktuellen Anlass zum 8. Buchser Montagsgespräch vom 6. Mai bildete der Piranha-Panzer, der am „Buchser Samstig“ vom 8. Juni in der autofreien Buchser Bahnhofstrasse präsentiert werden soll. Darüber hinaus aber wurde auch über die aktuelle europäische Sicherheitslage, das Verhältnis der Schweiz zur NATO sowie über die Frage diskutiert, ob Pazifismus in der heutigen Zeit kein Thema mehr sei.

Was das Verhältnis zwischen Russland und der NATO betrifft, so zeigte sich im Verlaufe der Diskussion, dass die Realität weitaus komplexer sei, als dies durch die Medien im Allgemeinen vermittelt werde. So etwa höre man nur selten davon, dass die USA über weltweit hundert Mal mehr Militärstützpunkte verfügt als Russland und fast alle dieser rund 2000 Basen ringförmig rund um Russland aufgestellt sind, was Bedrohungsängste seitens Russlands durchaus verständlich erscheinen lasse. Auch sei die Ukraine ganz und gar nicht jenes demokratische Musterland, als welches es im Westen dargestellt wird.

Übereinstimmung herrschte darin, dass der beste Schutz des Lebens zweifellos eine Welt ohne Waffen und Kriege wäre, während umgekehrt eine immer grössere Zahl von Waffen auch ein immer grösseres Risiko kriegerischer Auseinandersetzungen in sich berge, und sei es nur durch einen unbeabsichtigten technischen Zwischenfall. Eifrig wurde darüber diskutiert, ob der Krieg in der Natur des Menschen liege oder vielmehr eine Folge nationalistischer Machtansprüche und wirtschaftlicher Interessen sei. Einig war man sich darin, dass jene Menschen, die von Kriegen profitieren, meist nicht die gleichen sind, welche unter ihnen leiden oder ihnen zum Opfer fallen, wie es kürzlich auch in einer öffentlichen Äusserung des amerikanischen Aussenministers Blinken deutlich wurde, der sagte, die Weiterführung des Ukrainekriegs wäre eine gute Sache, weil sie dazu diene, Arbeitsplätze in der US-Rüstungsindustrie zu erhalten.

Eine Annäherung der Schweiz an die NATO wurde skeptisch beurteilt. Mehr könnte erreicht werden, wenn sich die Schweiz auf ihre Rolle als Konfliktvermittlerin und Friedensstifterin zurückbesinnen würde und auf ihr grosses Potenzial an hervorragenden Diplomatinnen und Diplomaten, die schon in vielen Konflikten wertvollste Arbeit geleistet hätten.

Zur Frage, ob die Präsentation eines Panzers im Rahmen des „Buchser Samstig“ eine gute Idee sei, waren, wie zu erwarten, die Meinungen geteilt. Wie man erfahren konnte, war dies ursprünglich gar nicht die Idee des OK gewesen, sondern aus Militärkreisen vorgeschlagen worden. Nach intensiven und durchaus kontroversen Diskussionen sei das OK aber zum Schluss gelangt, dieses Angebot in Anbetracht der Bedeutung der Schweizer Armee nicht ausschlagen zu können. Krieg sei nun einmal eine Realität, das dürfe auch an einem solchen Anlass sichtbar werden. Dem wurde entgegnet, der „Buchser Samstig“ sei hierfür nicht der geeignete Anlass. Wenn sich die Armee der Öffentlichkeit präsentieren wolle, gäbe es hierfür genügend andere Möglichkeiten.

Auf Wunsch stelle ich interessierten Leserinnen und Lesern gerne eine Sammlung von themenbezogenen Zitaten, die man nicht jeden Tag in den Mainstreammedien findet, zu: info@petersutter.ch.

Liebe

Um andere Menschen lieben zu können, um Tiere und Pflanzen lieben zu können, um die Erde und den Himmel lieben zu können, um das alles lieben zu können, musst du zuallererst dich selber lieben. Und dann ergibt sich alles andere wie eine unaufhaltsame Flut.

Markus Somm und die „Linken“: Wer hat sich da wohl selber am meisten im Jahrhundert verirrt?

Wieder einmal zeichnet sich der „Historiker“ Markus Somm in seiner Kolumne der „Sonntagszeitung“ vom 5. Mai 2024 durch besondere Originalität aus. Unter dem Titel „Wie der 1. Mai zu einem Nazi-Tag verkam“, beglückt er die Leserschaft mit seinen Beobachtungen der diesjährigen 1. Mai-Feier in Wien.

Für Markus Somm sind „alte Linke“, die an der Wiener 1. Mai-Feier teilnahmen, „ahnungslos“, „mitleiderregend“, „die letzten Mohikaner“ und „Strukturkonservative, die sich im Jahrhundert verirrt haben“. Damit nicht genug: „Fünf Männer“, so Somm, „sind für etwa 100 Millionen Tote verantwortlich“. Mit diesen fünf Männern meint Somm Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Grösseren historischen Blödsinn habe ich noch selten gelesen. Wollte man Marx und Engels, welche nichts anderes waren als überaus kluge und scharfsinnige Wirtschaftsanalytiker ihrer Zeit, für den Tod von 100 Millionen Menschen verantwortlich machen, dann müsste man konsequenterweise auch Jesus, auf den sich Hernando Cortez und Francisco Pizarro bei der Auslöschung der amerikanischen Urbevölkerung beriefen und mit dem sich Adolf Hitler in seiner Autobiografie verglich, für den Tod vieler Millionen Menschen verantwortlich machen.

Statt einer dermassen stossenden Geschichtsverfälschung hätte Markus Somm seine Kolumne gescheiter dafür verwendet, darauf hinzuweisen, wie aktuell die Gesellschaftsanalysen von Marx und Engels gerade in Anbetracht der heutigen globalen kapitalistischen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse immer noch sind. Wenn sich jemand im Jahrhundert verirrt hat, dann wohl Markus Somm selber am meisten. Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob man einem „Historiker“, der regelmässig solchen Unsinn verbreitet, statt über historische Zusammenhänge sachlich und umfassend aufzuklären, nicht früher oder später den Titel als „Historiker“ aberkennen müsste.

Sprunghaft zunehmender Schulabsentismus: Die Schule muss nicht allzu weit gehen, um die Ursache zu finden…

Für den in den letzten Jahren sprunghaft angestiegenen Schulabsentismus – unentschuldigtes Fernbleiben von der Schule – sieht René Donzé in der „NZZ am Sonntag“ vom 5. Mai 2024 vor allem zwei Ursachen: Ängste und Mobbing. Weiter werden erwähnt: Sozialphobie, Kriegsangst, Spätfolgen von Corona, Schnelllebigkeit der Gesellschaft, soziale Medien, häufiger Wohnortswechsel, Arbeitslosigkeit der Eltern, Armut, Verweichlichung. Nur am Rande ist die Rede davon, dass auch die Schule selber eine Ursache sein könnte.

Befragt man aber Kinder und Jugendliche, wird schnell deutlich, dass sie selber in erster Linie unter dem wachsenden schulischen Prüfungs- und Leistungsdruck leiden. Dazu kommt die Fremdbestimmung schulischen Lernens: Die Kinder und Jugendlichen dürfen nicht selber entscheiden, was und wie sie lernen möchten, die Lerninhalte werden ihnen weitgehend vorgeschrieben. Zudem werden sie durch das Prüfungs- und Notensystem permanent in einen gegenseitigen Konkurrenzkampf gezwungen, aus dem die einen immer wieder als vermeintliche „Gewinner“ und die anderen als „Verlierer“ hervorgehen, was bei diesen zu einer endlosen Kette von Misserfolgserlebnissen bis hin zum Verlust jeglichen Selbstvertrauens führen kann, der eigentlichen Grundvoraussetzung für erfolgreiches Lernen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mögen schwierig sein, oft auch die Familienverhältnisse, die soziale Situation, der Einfluss der sozialen Medien, möglicherweise auch die Folgen der Coronakrise. Wäre die Schule aber ein Ort des Wohlbefindens und der Lebensfreude, wo alle Kinder ausnahmslos erfahren dürften, wie wertvoll sie sind und über was für wunderbare Begabungen ein jedes von ihnen verfügt, dann würden wohl kaum so viele Kinder so ungern zur Schule gehen. Vermutlich wäre wohl eher das Gegenteil der Fall.

„Keine Schonhaltung für Schulschwänzer“, fordert René Donzé. Er spricht von einer „erodierenden psychischen Gesundheit der Jugend“, ohne die Wechselwirkung zwischen dieser „psychischen Gesundheit“ und einer Schule zu erwähnen, die viel zu wenig sorgsam auf die eigentlichen Lern- und Lebensbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingeht. Nicht zuletzt wirft er den Eltern vor, zu „lasch“ zu reagieren – so müsse man sich nicht wundern, wenn die Absenzen weiter zunähmen. Eine „Schonhaltung“ schade den Jungen bloss. Doch ist wohl zu bezweifeln, dass weniger „Schonhaltung“ und mehr Härte den Schulabsentismus verhindern könnten. Viel eher wäre wohl das Gegenteil der Fall: Der Widerwillen der Kinder und Jugendlichen gegenüber der Schule würde dadurch wahrscheinlich eher noch zunehmen.

Vielleicht müsste man bei dieser Gelegenheit nur wieder einmal den guten alten Johann Heinrich Pestalozzi lesen, den eigentlichen „Vater unserer Volksschule“. Dieser sagte nämlich: Wenn etwas im Unterricht nicht funktioniere, dann müsse der Lehrer stets zuallererst die Ursache bei sich selber suchen. Und erst, wenn er sie, was höchst selten sei, nicht bei sich selber finde, könne er sich ja überlegen, wo sie vielleicht sonst noch irgendwo sein könnte…

„NZZ am Sonntag“ vom 28. April 2024: Wenn selbst Wörter zu Waffen werden…

Der Artikel „Aufstand der Neoidealisten“ in der „NZZ am Sonntag“ vom 28. April ist ein typisches und vor allem höchst erschreckendes Beispiel dafür, wie sich selbst die Sprache je nach Zeitgeist verändert und Begriffe plötzlich eine ganz andere Bedeutung bekommen, als sie normalerweise haben. So werden die estnische Regierungschefin, der litauische Aussenminister und der tschechische Aussenminister als „idealistische Vorreiter“ gelobt, die sich der „Wahrung humanistischer Ideale“ verschrieben hätten und den „Weg in Europas Zukunft weisen könnten“ – und dies bloss deshalb, weil sie sich an vorderster Front für eine möglichst massive militärische Aufrüstung Europas stark machen und daher, zynisch genug, tatsächlich einiges dazu beitragen könnten, einen Weg in Europas Zukunft zu weisen, aber wohl einen, den sich niemand ernsthaft herbeiwünschen kann.

Als ein Land, welches „die demokratischen Werte hochhält, die Freiheit verteidigt und die Zukunft Europas schreibt“, wird, mit den Worten von Ursula von der Leyen, die Ukraine beschrieben, ausgerechnet jenes Land, wo mehrere Oppositionsparteien, Fernsehsender und Zeitungen verboten, alle russischen Bücher aus den Bibliotheken verbannt und die Aufführung von Musikstücken russischer Komponisten untersagt wurde, die Verwendung des Russischen mit Bussen geahndet wird und der Präsident seinem Volk, das sich gemäss Umfragen zu 72 Prozent für Verhandlungen mit Russland ausspricht, per Dekret ebensolche Verhandlungen verboten hat.

Das „Zaudern“ jener europäischen Regierungen, welche Waffenlieferungen an die Ukraine skeptisch gegenüberstehen, wird als „mutlos“ und „unmoralisch“ gebrandmarkt – vermutlich könnte allzu viel Zaudern möglicherweise ja dazu führen, noch auf dumme Gedanken zu kommen, etwa darauf, dass jede Waffe früher oder später einen Menschen verstümmeln, zerfetzen und seiner Familie entreissen wird.

So werden in kriegerischen Zeiten selbst die schönsten und edelsten Wörter, die dem Frieden, einer gewaltlosen Konfliktlösung und der Völkerverständigung dienen könnten, zu Waffen in der Sprache jener Illusionisten, die immer noch daran glauben, Kriege wären gewinnbar. Was für eine verrückte Zeit.

(P.S. Die obere Hälfte der Zeitungsseite, auf der dieser Artikel zu lesen ist, nimmt ein Foto mit zwei schwerbewaffneten, beim derzeitigen NATO-Manöver Steadfast Defender im Einsatz stehenden Soldaten ein, der eine von ihnen mit einem Maschinengewehr im Anschlag, beide, halb verschwommen, in einen rötlich-gelben Nebel gehüllt, ein Bild, das jedem Hollywood-Kriegsfilm alle Ehre machen würde. Was wohl der russische Präsident denken würde, wenn die Zeitung mit diesem Artikel und diesem Bild vor ihm auf dem Schreibpult liegen würde?)

Sonntagszeitung vom 28. April 2024: Psychische Probleme – alles nur eingebildet?

„Entgegen der landläufigen Meinung nimmt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen nicht zu“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Dirk Richter. Dass sich 14 Prozent der Männer und 22 Prozent der Frauen – bei den jüngeren Frauen sogar 29 Prozent – als „mittel bis schwer psychisch belastet“ fühlen, führt Richter vor allem darauf zurück, dass sich die „gesellschaftliche Wahrnehmung“ in Bezug auf psychische Probleme stark verändert habe. Daraus aber nun den Schluss zu ziehen, das meiste sei bloss „eingebildet“, erscheint mir doch allzu voreilig. Auch die Aussage des Buchautors und Arztes Adrian Massey, wonach jeglicher Sinn dafür, was psychische Krankheiten seien, verloren gegangen sei, wenn diese bis zu 50 Prozent der Bevölkerung beträfen, greift meiner Meinung nach zu kurz. Es ist nämlich durchaus denkbar, dass zunehmender Zeitdruck und Stress am Arbeitsplatz, Überarbeitung, fehlende Sinnhaftigkeit in der beruflichen Tätigkeit, der wachsende gegenseitige Konkurrenzkampf, der beständige Zwang zur Selbstoptimierung, fehlende Wertschätzung durch Vorgesetzte, Zukunftsängste, Vereinsamung, Armut und der wachsende Leistungsdruck in den Schulen tatsächlich zu einer Zunahme psychischer Belastungen führen. Dann helfen freilich Therapien und Medikamente auch nicht weiter, sondern nur die Vermenschlichung und Entschleunigung eines Wirtschaftssystems, das viel zu stark auf materielle Profitmaximierung ausgerichtet ist und viel zu wenig auf die tatsächlichen Lebensbedürfnisse der Menschen.

Täglich ein Drittel unserer Wachzeit vor einem Bildschirm: Höchste Zeit, Nützliches von Schädlichem, Sinnvolles von Überflüssigem zu trennen…

Internet, soziale Medien, Computerspiele und Videos verschlingen inzwischen rund einen Drittel unserer Wachzeit, so war in dem am 24. April 2024 auf ORF 1 ausgestrahlten Dokumentarfilm „Smarte Kids? Kinder und digitale Medien“ zu erfahren. Das typische Vorschulkind verbringt etwa vier Stunden pro Tag vor irgendeiner Art von Bildschirm, in den USA sind es sogar sechs Stunden pro Tag. Immer mehr Kinderärzte schlagen Alarm und warnen vor den schädlichen Auswirkungen übermässigen digitalen Medienkonsums auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns. Auch Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Schlafstörungen, Übergewicht, Ängstlichkeit und zunehmende Beziehungslosigkeit zwischen den Kindern und ihren Eltern sind höchstwahrscheinlich zu einem grossen Teil auf die massive Bild- und Informationsflut zurückzuführen, der schon kleinste Kinder von früh bis spät ausgesetzt sind. Was in den USA schon lange Normalität ist, nämlich, dass der Fernsehapparat Tag und Nacht läuft, vor dem Fernseher gegessen und die Hausaufgaben erledigt werden und es in vielen Familien nicht einmal mehr einen Esstisch gibt, diese „Normalität“ greift immer mehr auch auf die europäischen Länder über. Begann der Fernsehkonsum im Jahre 1970 noch im Alter von durchschnittlich vier Jahren, sitzen heute schon Kinder im Alter von vier Monaten vor dem Fernseher. Und dies, obwohl das Gehirn in diesem Alter noch gar nicht die Fähigkeit besitzt, eine so schnelle und dichte Bildfolge zu bewältigen. Zudem ist, wie Experimente gezeigt haben, das Kind erst im Alter von etwa drei Jahren fähig, zweidimensionale von dreidimensionalen Ansichten zu unterscheiden, das heisst: Es hat vor dem Erreichen dieses Alters noch keine reale, konkrete, verinnerlichte Vorstellung davon, was auf dem Bildschirm tatsächlich dargestellt wird. Trotzdem verbringen etwa ein Drittel aller Kinder schon vor dem zweiten Lebensjahr täglich bis zu 90 Minuten vor dem Bildschirm – nutzlos vergeudete und verlorene Zeit in Bezug auf ihre Lernentwicklung, die viel schneller voranschreiten würde, wenn sie sich während dieser Zeit mit Bauklötzen, Legosteinen, Zeichnen, Malen, Basteln, Rollenspielen oder anderen altersgerechten Tätigkeiten beschäftigen würden.

Diejenigen, welche alle diese digitalen Verführungen produzieren, wissen haargenau, welche Mittel sie anwenden müssen, um möglichst viele Menschen schon von klein auf in ihren Bann zu ziehen und von ihnen abhängig zu machen, so dass sich das Konsumverhalten nach und nach immer weiter potenziert. Dabei spielen Belohnungssysteme eine zentrale Rolle. Wenn man in einem Videospiel einen Punkt gewinnt, einen Sieg erringt oder, in den sozialen Medien, ein Herzchen, irgendein Glückssymbol oder gar einen neuen „Freund“ oder eine neue „Freundin“ erobert, dann wird jedes Mal im Gehirn ein Glücksgefühl ausgelöst, das sich mit jenem vergleichen lässt, das auch mit Nahrungsaufnahme, Drogenkonsum oder Sex verbunden ist und nach immer mehr und mehr davon verlangt. Dabei zeichnen sich Videospiele durch ein besonders hohes Suchtpotenzial aus, vergleichbar jenem, auf dem auch schon in vordigitalen Zeiten die Glücksspielindustrie beruhte, damit unzählige Menschen in eine existenzgefährdende Verschuldung trieb und katastrophale volkswirtschaftliche Folgen zeitigte. Seit 2018 gilt die Videospielsucht gemäss WHO als ein Krankheitsbild, welches mit einer Kokainsucht vergleichbar ist. Videospielsucht kann zu einem völligen Verlust jeglichen Zeitgefühls führen, häufig wird so lange und so exzessiv gespielt, bis es den Betroffenen schwarz vor den Augen wird, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen auftreten oder es gar zu einem völligen psychischen Zusammenbruch kommt. In China, Südkorea und den USA, wo Videospielsucht besonders weit verbreitet ist, gibt es bereits spezielle Entzugsanstalten, um betroffenen Jugendlichen für teures Geld mit militärischem Drill ihre Sucht wieder auszutreiben. Doch nicht nur das Suchtpotenzial macht Videospiele so gefährlich. Hinzu kommt, dass viele der besonders beliebten dieser Spiele auf dem Prinzip beruhen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele „Feinde“, die von allen Seiten heranstürmen, abzuknallen. Um sich vorzustellen, was dies wiederum, wenn man es täglich stundenlang tut, in den Köpfen der Gamerinnen und Gamer bewirkt, hierfür braucht es wohl nicht allzu viel Phantasie…

Dass uns allein schon der gesunde Menschenverstand sagt, dass im Bereich des digitalen Medienkonsums allzu vieles schief läuft und insbesondere Kinder in viel zu frühem Alter allen möglichen Formen von Dauerberieselung ausgesetzt sind, die einer gesunden, ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung kaum besonders förderlich sind, scheint in einer so technologie- und wissenschaftsgläubigen Zeit wie der unseren nicht zu genügen. Deshalb werden, wie im erwähnten Dokumentarfilm gezeigt wird, alle möglichen und unmöglichen Experimente und Studien durchgeführt, um das, was allgemein vermutet wird, sozusagen hieb- und stichfest zu „beweisen“. So zum Beispiel werden Experimente durchgeführt, bei denen Mäuse während sechs Stunden pro Tag pausenlosem Blitzlichtgewitter ausgesetzt werden, um herauszufinden, was für jedes Kind auch ohne ein solches Experiment logisch ist, nämlich, dass diese Mäuse mit der Zeit völlig irre und orientierungslos in ihren Käfigen hin und her rasen – was für eine Grausamkeit, die hier unter dem Vorwand einer völlig überflüssigen und unnötigen „Forschung“ betrieben wird! Mittels einer weiteren Studie, welche zurzeit mit 12’000 Kindern und Jugendlichen in 21 speziell zu diesem Zweck geschaffenen Untersuchungszentren in den USA durchgeführt wird, will man „wissenschaftlich“ herausfinden, was für einen Einfluss digitaler Medienkonsum auf die Entwicklung des Gehirns im Kindes- und Jugendalter hat. Zu diesem Zweck werden die Probandinnen und Probanden alle drei Monate einer Computertomographie unterzogen, dabei werden ihnen – absurder geht es nun wirklich nicht mehr – Videofilme vorgespielt, damit sie sich während der Dauer der Untersuchung möglichst nicht bewegen. Um „aussagekräftige“ Ergebnisse zu bekommen, muss die Studie über mindestens sieben Jahre hinweg erfolgen, sodass die möglichen Spätfolgen problematischer Gehirnveränderungen erst zu einem Zeitpunkt feststehen werden, in dem die untersuchten Kinder von den Ergebnissen der an ihnen vorgenommenen Analysen selber gar nicht mehr profitieren werden. Gleichzeitig werden aller Voraussicht nach in der Zwischenzeit bereits wieder zahlreiche neue digitale Produkte auf dem Markt angekommen sein, welche von den laufenden Untersuchungen noch gar nicht erfasst wurden – ein sich ständig beschleunigendes Wettrennen, bei dem die Wissenschaft gegenüber der Technologie laufend den Kürzeren zieht. Den grössten kurzfristigen Nutzen daraus ziehen wohl in erster Linie all jene, die als Produzenten von Messgeräten, Programmierern von Testverfahren oder „Expertinnen“ und „Experten“ bei der Durchführung und der Auswertung der Studienergebnisse ihr ganz grosses Geschäft machen.

„Tablets sind auf den Markt gekommen, bevor wir die Risiken ihrer Nutzung erforscht haben“, bringt es Daphné Bavelier, Neurowissenschaftlerin an der Universität Genf, auf den Punkt. Das gilt nicht nur für Tablets, sondern für die technologische Entwicklung insgesamt. Die Büchse der Pandora ist weit geöffnet, aus ihr sprudeln in immer grösserer Anzahl und in immer höherem Tempo Verlockungen aller Art hervor und ziehen uns in ihren Bann, bevor wir überhaupt Gelegenheit hatten, uns mit ihren vielfältigen, komplexen und widersprüchlichen Sonnen- und Schattenseiten ernsthaft auseinanderzusetzen. Produziert wird einfach, was technisch möglich ist und was sich gewinnbringend verkaufen lässt, sozusagen ohne alle Rücksicht auf mögliche Opfer. Die ethische Frage, die Frage, was sinnvoll ist und was nicht, was den Menschen schadet und was ihnen nützt, die Frage, welches all die damit verbundenen ökologischen Folgen sind, woher all die Rohstoffe und all die Energie kommt, die es für die Aufrechterhaltung aller dieser Beschäftigungen braucht und wie lange diese Rohstoffe und diese Energie überhaupt in genügendem Masse vorhanden sein werden – all dies ist vollkommen in den Hintergrund getreten, aus der öffentlichen Debatte ausgeklammert. Als wäre die Technologie im Bunde mit der sogenannten „freien Marktwirtschaft“ so etwas wie eine schicksalshaft über uns gekommene Gottheit, der wir uns nahezu willen- und kritiklos ausliefern müssten, um als Konsumentinnen und Konsumenten ganz allein selber dafür verantwortlich zu sein, wie wir damit umgehen, um allzu grossen Schaden von uns fernzuhalten…

Allerhöchste Zeit für einen radikalen Marschhalt. Es gilt, das Bestehende auf den Kopf zu stellen. Nicht zuerst die neuen Technologien und dann, im Nachhinein, die Fragen, Experimente und Untersuchungen, ob sie nützlich oder schädlich sind. Sondern genau umgekehrt: Zuerst die Frage, was aufgrund ethischer, sozialer, psychologischer, menschlicher, pädagogischer und ökologischer Erwägungen sinnvoll und verantwortbar ist, und dann erst, basierend auf diesen Erkenntnissen, der Entscheid darüber, welche Ideen weiterverfolgt werden sollen und welche nicht. Zudem muss es unbedingt darum gehen, sämtliche damit verbundenen Interessen offenzulegen. Damit neue Ideen, neue Produkte, neue Technologien, neue technische Werkzeuge und Instrumente nicht mehr länger vor allem deshalb in die Welt kommen, damit irgendwer damit möglichst viel Geld verdienen kann, sondern deshalb, weil sie den Menschen tatsächlich einen Nutzen bringen, das Leben erleichtern und es schöner machen, eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, gesellschaftliche Fortschritte ermöglichen, den Zugang zu Informationen demokratisieren und Menschen miteinander in Verbindung bringen, die sonst kaum je den Kontakt zueinander gefunden hätten.

Es ist absolut nicht einzusehen, weshalb nicht auch der Zugang zu digitalen Medien mit ihrem nachweislich starken Suchtpotenzial ebenso restriktiven Altersbeschränkungen unterliegen sollte wie der Konsum von Nikotin, Alkohol oder anderen Suchtmitteln. Die Grosszügigkeit und Allgegenwart, mit der digitale Medien fast jederzeit und überall angeboten, ja geradezu angepriesen und als scheinbar unentbehrlicher Bestandteil des Alltagslebens als selbstverständlich angesehen werden, steht in einem unbegreiflichen Gegensatz zu fast allen anderen täglichen Betätigungsfeldern und Alltagsgewohnheiten. Kein Mensch käme auf die Idee, in seinem Haus oder seiner Wohnung auf jedem Möbelstück eine kleine Schale mit Gummibärchen, Smarties und Sauernudeln aufzustellen, um den Kindern jederzeit und überall den Konsum dieser Süssigkeiten zu ermöglichen – wo es aber um den Fernseher, das Tablet, den Computer oder das Smartphone geht, tun wir genau dies.

Die gesellschaftliche Debatte müsste aber noch weit darüber hinausgehen. Besteht durch die Omnipräsenz der digitalen Welt nicht auch die Gefahr einer tiefgreifenden Entwurzelung der Menschen schon von klein auf von der realen, sinnlichen, greif- und fühlbaren Welt, von der Natur, den Tieren und Pflanzen, von der Erde, dem Wetter, dem Erleben der unterschiedlichen Jahreszeiten? Jede Minute mehr, die an einem Bildschirm verbracht wird, jede Minute mehr, in der mit der Maustaste ein künstlicher Hund gefüttert wird, ist eine Minute weniger, die mit gemeinsamem Spielen, Zusammensein mit Freunden, im Garten oder im Wald verbracht oder in der einem echten Hund Nahrung gegeben wird. Zeiten, die für alles Mögliche und Erdenkliche zur Verfügung stünden, werden, wie in ein schwarzes Loch, in immer grösserem Ausmass von den digitalen Medien aufgesogen und weggefressen, nicht nur bei den Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei den Erwachsenen. Kein Wunder, bleibt am Ende dann kaum noch Zeit für echte zwischenmenschliche Begegnungen, für Vereinsarbeit sowie für ehrenamtliches und politisches Engagement – lauter gesellschaftlich wichtige und für das Funktionieren einer Demokratie geradezu unverzichtbare Tätigkeiten, wo es zunehmend schwieriger wird, genügend Nachwuchs zu finden.

Viele Menschen empfinden die digitale Welt als willkommenen Ausgleich zu den Belastungen, dem Zeitdruck und dem Stress in der Arbeitswelt und der Schule. Zweckfrei und ziellos surfen, in die Welt hinaus träumen, in Phantasiewelten eintauchen, sich spannende Filme „hineinziehen“, Musik hören, Veranstaltungsangebote in der näheren und weiteren Umgebung abchecken, Hotelpreise vergleichen, Ferienziele durchforsten, in den sozialen Medien möglichst viele neue Leute mit ihren Vorlieben und Lieblingsbeschäftigungen „kennenlernen“, Ferienfotos und Ferienfilme in alle Welt hinausschicken, nach den Ferien die auf 300 oder 400 neue Nachrichten angewachsene Mailbox abarbeiten – es gibt in den unendlichen Weiten künstlicher Welten immer noch irgendetwas zu erledigen oder zu tun, auch wenn es noch so unnötig ist und einen noch so geringen Nutzen erbringt. Doch lenken solche „Fluchtversuche“ aus der realen Welt nicht von der viel wichtigeren und grösseren Herausforderung ab, diese reale Welt eben in einer Art und Weise umzugestalten, dass alle diese Ablenkungen und Kompensationen eines Tages überflüssig geworden wären und man die digitalen Werkzeuge tatsächlich nur noch für jene Zwecke brauchen würde, die sich auf anderen Wegen nicht bewerkstelligen lassen? Ebenso wie auch Alkohol- und Nikotinkonsum, Spielsucht oder übertriebenes, bis zum Exzess betriebenes sportliches Training bei jenen Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit viel Freude, Wertschätzung und Befriedigung erfahren, weitaus seltener anzutreffen sind.

Damit sind wir freilich mitten in der Kapitalismuskritik. Denn ein auf endloses Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem ist zwangsläufig darauf angewiesen, laufend neue Bedürfnisse zu schaffen und – mithilfe immer aggressiverer Werbemethoden – die Menschen dazu anzutreiben, in wachsendem Ausmass Dinge zu kaufen und sich anzueignen, die sie für ein gutes Leben gar nicht wirklich brauchen. Als ich zehn Jahre alt war, gab es einen einzigen Fernsehsender, das schweizerische Staatsfernsehen. Tagsüber gab es kein Programm, die Sendungen begannen jeweils um 18 Uhr und zwischen 22 und 23 Uhr war Schluss. Dienstag war jeweils fernsehfrei, der Bildschirm blieb schwarz. Heute habe ich die Wahl zwischen etwa 300 verschiedenen Sendern, und dies pausenlos, Tag und Nacht, zudem kann ich mir Sendungen auch zeitversetzt noch bis zu drei Tagen später anschauen. Und doch habe ich nicht das Gefühl, in diesen 64 Jahren deswegen tausend Mal glücklicher geworden zu sein…